Im Jahre 1651 veröffentlichte Thomas Hobbes sein Werk Levianthan, die erste moderne Staatstheorie. Die Gründung des Staates vollzieht sich in diesem Buch in einem Moment, in dem die Bürger untereinander einen Vertrag schließen, eine dritte Kraft (den Herrscher, symbolisiert durch den krakenhaften Leviathan) zu ermächtigen, über sie zu herrschen. Die Menschen geben ihre Selbstbestimmung weitgehend auf, erhalten dafür vom Leviathan aber Gesetzte, innere Ordnung und Schutz vor äußeren Feinden. Ob John Wagner und Carlos Ezquerra, als sie 1977 ihre Comicfigur Judge Dredd erfanden, mit Hobbes' Konzeption vertraut waren, lässt sich nicht abschließend sagen, doch Parallelen zwischen dem Leviathan und dem härtesten Cop von Megacity One sind nicht zu leugnen. Anders gesagt: Viele Ansichten von Hobbes darüber, wie ein Staat zu funktionieren habe, würde Judge Dredd sofort unterschreiben.
Morgen kommt mit Dredd eine Adaption des Comics in unsere Kinos, in 3D und mit Karl Urban, Olivia Thirlby und Lena Headey in den Hauptrollen. Das Drehbuch lieferte Alex Garland, auf dem Regiestuhl saß Pete Travis und beide Filmemacher standen vor einiger Gewaltigen Aufgabe: Sie mussten nicht nur einen Film vorlegen, der das allgemeine Publikum und vor allem die zahlreichen Fans der Vorlage inhaltlich und vor allem im Bezug auf die Darstellung der Titelfigur überzeugt, sondern auch noch die Erinnerung an den missglückten Streifen Judge Dredd aus dem Jahre 1995 aus den Köpfen der Zuschauer bekommen, in dem Sylvester Stallone als Gesetzeshüter zu sehen war. Eine Herkulesaufgabe, doch nach Ansicht des Films lässt sich feststellen, dass das Duo Garland/Travis in den meisten Belangen einen wirklich guten Job gemacht hat.
Dredd spielt in Megacity One, einer Metropole der Zukunft, in der 800 Millionen Menschen leben (man sollte wahrscheinlich besser sagen: hausen). Errichtet auf den Ruinen des alten Amerika, ist Megacity One ein einziges Chaos aus Gewalt und Kriminalität, gezeichnet vom Kampf eines Jeden gegen den Anderen. Hobbes würde dies als Naturzustand bezeichnen. Das Gesetz wird vertreten durch die Judges, die Polizisten, Ankläger und Richter in Personalunion sind. Gewaltenteilung, wieder eine interessante Parallele zu Hobbes, gibt es nicht. Judge Dredd (Karl Urban), inzwischen eine Legende unter den Judges, wird der Frischling Judge Anderson (Olivia Thirlby) zur Seite gestellt, dessen Leitungen Dredd evaluieren soll. Anderson verfügt über spezielle psychische Fähigkeiten, ihre Eignung zum Gesetzeshüter steht aber in Frage. Gemeinsam legen sich Dredd und Anderson mit Ma-Ma an, einer skrupellosen Drogenbaronin, die ihr Imperium aus einem 200 Stockwerke hohen Wohnkomplex heraus regiert. Was als Polizeiaktion beginnt, wächst sich schnell zu einem regelrechten Krieg zwischen Ma-Ma und den beiden Judges aus.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieses Mal behält Dredd seinen Helm wirklich auf, womit schon mal eine der Grundbedingungen erfüllt wäre, die von den Fans an diese Verfilmung gestellt wurde. Auch darüber hinaus bleiben Garland und Travis der Vorlage treu, denn dieser Dredd ist einsilbig, zynisch und richtet Verbrecher ohne Rücksicht auf Verluste. Wer gegen das Gesetz verstößt, ist fällig - Gnade kennt das Gesetz nicht, darum ist sie auch Dredd unbekannt. Karl Urban ist eine gute Wahl für den Part, denn er ist nicht so bekannt, dass er die zu verkörpernde Figur überstrahlt. Hier wurde nicht jener Fehler begangen, der in den 1990ern die erste Verfilmung scheitern ließ. Urban ist Judge Dredd! Daran gibt es nach diesem Film keinen Zweifel mehr.
Die Figur des Judge Anderson wurde ebenfalls aus den Comics entliehen und vorlagengetreu umgesetzt. Sie ist ein deutlicher Gegenpol zu Dredd, sympathisch und zu Beginn deutlich optimistischer als ihr Partner, als Cop in dieser Stadt einen Unterschied machen zu können. Der Einsatz im Hochhaus Peach Trees wird sie verändern. Überhaupt ist Dredd mindestens genauso ein Film über Judge Anderson, wie er es über Judge Dredd ist. Dies kommt nicht von ungefähr, denn Judge Dredd ist von Natur aus ein eindimensionaler Charakter, während Anderson als Figur deutlich mehr her gibt. Gleichzeitig ist es bis heute so, dass Dredd in den Comics für den Leser häufig lediglich ein Bezugspunkt in Storys ist, die aber eigentlich nicht von ihm, sondern von ganz anderen Personen handeln. Dieses Stilmittel aus der Vorlag wenden die Macher auch für ihren Film an, was sehr gut funktioniert und der Handlung ein Stück weit mehr Tiefe gibt. Olivia Thirlby kommt eigentlich von Independentfilm und ist daher eine etwas ungewöhnliche Wahl für die Besetzung von Anderson. Auch in ihrem Falle steht die Figur im Vordergrund, die Actrice tritt deutlich hinter sie zurück und erleichtert es dadurch dem Zuschauer, Anderson als Person zu akzeptieren. Lena Headey wirkt dazu im Vergleich recht unterfordert. Ma-Ma ist als Antagonistin sehr eindimensional, was sie zwar in ein interessantes Spannungsverhältnis zu Judge Dredd bringt, da beide extrem sind, doch auf den Zuschauer übt sie wenig Reiz aus. Headey macht das Beste aus der Rolle, doch viel Spielraum hat sie leider nicht.
Die Charaktere werden in Dredd sehr zügig eingeführt und die Fronten sind recht schnell bezogen, damit das Gemetzel beginnen kann. Die Action ist sehr ordentlich choreographiert und auch die Effekte können sich sehen lassen. Gedreht wurde im südafrikanischen Kapstadt, wo man für die Innenaufnahmen die Cape Town Studios nutzte. Die Bühnenbildner haben sich wirklich alle Mühe geben, jenen schmutzigen und dystopischen Look zu kreieren, der den ganzen Film prägt. Megacity One ist keine Metropolis, in der man gerne leben möchte, sondern ein Hexenkessel, der dem Untergang geweiht zu seien scheint. Dieser Ansatz wirkt sich auch auf die Kostüme der Protagonisten aus, denn Dredds Uniform hat schon bessere Tage gesehen und trägt jede Menge Kampfspuren. Auf futuristische Fahrzeuge wurde verzichtet und Aufnahmen von realen Unruhen wurden für die Darstellung von Ausschreitungen in Megacity One verwendet. Dies erdet die Handlung und stellt sie in einen Kontext zu unserer Gegenwart, als deren beängstigende Fortschreibung Dredd daherkommt. Optisch aufgewertet wird der blutgetränkte Plot durch die Darstellung der Wirkung der von Ma-Ma vertriebenen Droge Slo-Mo, die ihren Nutzer die Realität stark verlangsamt erleben lässt. Wer schon immer mal in Zeitlupe sehen wollte, wie einem Menschen durch diverse Körperteile geschossen wird, bekommt in Dredd das entsprechende Bildmaterial geliefert. Da auch in Realzeit ordentlich die Fetzen fliegen, sollte nicht zu den Zartbesaiteten gehören, wenn man sich für diesen Film entscheidet. Der Streifen hat sich seine Altersfreigabe redlich verdient.
So sehr Travis und Garland darin erfolgreich waren, die Welt von Megacity One und die Figuren Judge Dredd und Judge Anderson überzeugend zum Leben zu erwecken, so müssen sich die beiden allerdings sagen lassen, dass sie einen zwar gradlinigen und actiongeladenen Plot vorzuweisen haben, der allerdings nicht sonderlich innovativ oder gar wendungsreich daherkommt. Spannend ist die Jagd der Judges nach Ma-Ma auf jeden Fall, doch kommt manches einfach zu vorhersehbar und auch die Gewalt nutzt nach einer gewissen Weile ab. Wer in diesen Film geht, um endlich Judge Dredd vernünftig umgesetzt auf der Leinwand zu sehen, wird sicher auf seine Kosten kommen. Wer einfach nur in einen dystopischen SF-Streifen geht, wird sich hinterher vielleicht fragen, warum die Fans der Comicfigur solch ein Aufheben um diesen Film gemacht haben.
Vor diesem Hintergrund hat Dredd durchaus das Zeug zum Kultfilm: Die Anhänger von Judge Dredd werden ihn lieben, ein breites Publikum wird er, sicherlich auch wegen des hohen Gewaltanteils, wohl eher nicht finden. Dabei wäre es ihm zutiefst zu wünschen. Und sei es nur, dass die Zuschauer mit dem Gedanken das Kino verlassen, dass man es zu gesellschaftlichen Zuständen wie in diesem Film niemals kommen lassen darf.
Dredd läuft ab dem 15. November 2012 bundesweit in den Kinos.