Filmkritik zu ‘Halt auf freier Strecke’

Filmkritik zu ‘Halt auf freier Strecke’

Wir befinden uns wenige Sekunden im Film, da erwartet uns schon ein dramatischer Höhepunkt. Dem Hauptprotagonisten wird im Beisein seiner Frau ein Gehirntumor diagnostiziert, der inoperabel die Zukunft der Familie verändern wird – denn diese familiäre Zukunft wird nicht mehr von langer Dauer sein. Der Arzt, der diese Diagnose stellt, ist kein Schauspieler, sondern ein realer Arzt, der diese Gespräche Woche für Woche führen muss. Die Intensität ist unfassbar nahe am Zuschauer dran. Das spricht für die Arbeit des deutschen Regisseurs Andreas Dresen, der bereits mit ‚Sommer vorm Balkon‘ und ‚Wolke Neun‘ eindringliche Werke präsentierte.

Filmkritik zu ‘Halt auf freier Strecke’

Milan Peschel & Steffi Kühnert

Mit seiner Filmfigur Frank, dargestellt von Milan Peschel, und dessen Frau Simone (Steffi Kühnert) hat er für ‘Halt auf freier Strecke’ zwei Familienmenschen erschaffen, die sich in dieser Situation wiederfinden und sich nun Gedanken darüber machen müssen, was mit dem noch nicht abbezahlten Haus geschieht, wie man den zwei gemeinsamen Kindern diese Nachricht überbringt und wie das Leben bis zum finalen Atemzug Franks aussehen soll. Die Familie – wie auch der Zuschauer – wird mit dem Thema des Sterbens, aber auch des Weitermachens unter diesen Umständen konfrontiert. Dabei bringen Dresens Hauptdarsteller nicht weniger Authentizität herüber, als es der Arzt zu Beginn getan hat. Als sie die Nachricht erhalten, spiegelt sich die Verzweiflung in ihren Augen wieder, die Körper, die sich nur unmerklich verkrampfen, sprechen ihre eigene Sprache. Das Gesamtbild bereitet Unbehagen.

Wo sich der Zuschauer in diesen ersten, zermürbenden acht Minuten noch in die nüchterne Sterilität der Arztpraxis retten kann, wird bei der folgenden Szene am abendlichen Küchentisch der letzte Damm gebrochen. Frank bricht vor seinen Kindern vor Verzweiflung zusammen, muss den Tisch verlassen, lässt seine Tochter und seinen Sohn ratlos sitzen, gemeinsam mit seiner Frau, die nun die Situation erklären muss. Sie kann sich schon einmal daran gewöhnen, dass sie sich bald allein um die sportliche Lilli und den neugierigen Mika kümmern muss. Frank erlebt derweil die heillose Überforderung, liegt zusammengekauert auf dem Bett und verzweifelt über seiner Situation. Als ob das noch nicht genug der Dramatik wäre ist dem Zuschauer natürlich hier schon bewusst, dass er sich noch am Anfang des Filmes befindet und ihm eine stetige Steigerung des Krankheitsbildes bevorsteht.

Filmkritik zu ‘Halt auf freier Strecke’

Mika Seidel, Talisa Lilly Lemke, Milan Peschel, Steffi Kühnert

Nach diesem ersten Zusammenbruch versucht Frank jedoch erst einmal sein Leben normal weiterzuführen. Er geht zur Arbeit, erledigt, was es zu erledigen gibt. Aber die Normalität ist bereits verschwunden. Er vergisst Dinge, verwechselt Tage, weiß nicht mehr was er tut. Sein Alter-Ego, der Tumor, gewinnt die Oberhand. Der Film gibt dem Tumor sogar ein menschliches Bild: Schauspieler Thorsten Merten, der bereits für ‚Halbe Treppe‘ mit Andreas Dresen zusammen arbeitete, verkörpert Franks Krankheit in dessen Visionen, absolviert sogar einen imaginativen Auftritt in der Harald Schmidt Show.

Bei all der Komik, die aus diesen Szenen entsteht – dazu gehören auch anfänglich humorvolle Tagebuchaufzeichnungen, die Frank in sein iPhone einspricht – werden diese doch immer wieder in ein tragisches Licht gerückt. Jeder lustige Monolog endet traurig, jeder noch so amüsante Dialog wird zur Verzweiflung gewendet. Und dann sitzt Frank wieder im Wartezimmer, ist einer unter vielen Patienten, erhält keine Sonderbehandlung, weil er nicht der Einzige ist, den dieses Schicksal ereilt. Es ist alltäglich, was uns hier unmissverständlich vorgeführt wird. Frank ist kein besonderer Mann, er hat keine besondere Krankheit – er befindet sich in einer Situation, die jeden von uns plötzlich treffen kann – damit muss man sich abfinden, wenn man hier im Kinosessel sitzt.

Die Begebenheiten werden immer belastender für die Familie. Frank pinkelt in das Zimmer seiner Tochter, liefert sich Wortgefechte mit seiner Frau und bald kommt nicht mehr aus seinem Mund als ein Speichelfaden. Es wäre für alle das Beste, wenn er einfach einschlafen würde – mit diesem Satz spricht Franks Frau dann aus, was sich der Zuschauer schon lange Zeit gedacht hat. Aber diese Worte laut aus dem Mund einer liebenden Person zu hören, zieht die Schwere noch einmal ein ganzes Stück weiter nach unten. Und dann kommt der Moment, in dem Frank seiner Familie einen Gefallen tut. Friedlich verabschiedet er sich im familiären Beisammensein aus der Welt und seine Tochter quittiert die Situation mit der Bemerkung, dass sie nun zum Training müsse. Das Leben geht eben weiter.

Denis Sasse

Filmkritik zu ‘Halt auf freier Strecke’

‘Halt auf freier Strecke‘

Originaltitel: Halt auf freier Strecke
Altersfreigabe: ab 6 Jahren
Produktionsland, Jahr: D, 2011
Länge: ca. 110 Minuten
Regie: Andreas Dresen
Darsteller: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Talisa Lilly Lemke, Mika Seidel, Ursula Werner, Otto Mellies, Thorsten Merten


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