Filmkritik: «X-Men: Apocalypse» (seit dem 19. Mai 2016 im Kino)

Und weiter geht er, der Marsch durch die X-Men-Chronologie: Von den Anfängen in den 1960ern erzählte X-Men: Erste Entscheidung; wie es in den 1970ern weiterging, war Gegenstand von X-Men: Zukunft ist Vergangenheit; und nun sind wir mit X-Men: Apocalypse in den 1980ern angekommen. Zeitlich macht der Film aber erst einmal einen großen Sprung zurück ins alte Ägypten, wo ein Aufstand den bis dahin als Gott verehrten En Sabah Nur/Apocalypse nicht nur zu Fall bringt, sondern ihn auch unter Tonnen von Gestein begräbt. Die Welt vergisst den Über-Mutanten und dreht sich weiter. 1983 wird sie Zeuge seines Comebacks, und der Superschurke erst einmal Opfer eines gehörigen Kulturschocks: Die Zustände im späten 20. Jahrhundert gefallen ihm so gar nicht; insbesondere, dass zwei Supermächte über den Planeten beherrschen, was nach Apocalypse' Verständnis allein sein Vorrecht ist. Da muss schleunigst wieder Ordnung rein in die Verhältnisse. Und im Stile eines Studios, das eine festgefahrene Filmreihe zu altem Glanz zurückführen möchte verordnet der Fiesling der Erde ein komplettes Reboot, bei dem er als Produzent und Regisseur fungiert. Ausführende Produzenten sind neben ihm auch noch Erik Lensherr/Magneto, Ororo Munore/Storm, Angel und Psylocke. Überhaupt keine Lust auf den Streifen"Die neue Herrschaft des Apocalypse" haben allerdings Charles Xavier/Prof. X und seine X-Men, die sich dem Quintett darum entschlossen in den Weg stellen. Bühne frei für den große Fight um das Schicksal der Menschheit.

Filmkritik: «X-Men: Apocalypse» (seit dem 19. Mai 2016 im Kino)

Auch wenn es heute nur noch schwer vorstellbar ist: Es gab eine Phase, in der die X-Men so unpopulär waren, dass Marvel keine neuen Comics mit der Mutantentruppe mehr herausbrachte. Von Anfang 1970 bis Mitte 1975 dauerte sie, in der die Serie zwar offiziell weiterlief, die Ausgaben #67 bis #93 jedoch nur Nachdrucke alter Geschichten enthielten. Ab August 1975 und Heft #94 druckte man dann wieder frisches Material, doch den eigentlichen Neubeginn markiert Giant Size X-Men #1 vom April desselben Jahres. Ein Versuchsballon, mit dem Marvel den Markt testete, indem man den Lesern ein fast vollständig neues Team präsentierte. Charaktere wie Colossus, Strom oder Nightcrawler feierten in diesem Comic, der in gut erhaltenem Zustand unter Sammler heutzutage Höchstpreise erzielt, ihre Premiere. X-Men: Apocalypse ist kein Versuchsballon, sondern der dritte Teil der aktuellen X-Men-Filmreihe, doch auch er etabliert jede Menge Charaktere. Neben Strom und Nightcrawler als Reverenz an Giant Size X-Men #1 tauchen nun auch erstmals Cyclops (gespielt von Tye Sheridan), Jean Grey (Sophie Turner), Psylocke (Oivia Munn) und Angel (Ben Hardy) auf. Der Film widmet sich den Newcomern zwar in unterschiedlichem Maße, lässt aber nie das Gefühl aufkommen, die Anwesenheit der Figuren diene allein dem Zweck, bei den Zuschauern zu punkten, indem man ihnen möglichst viele Superhelden gleichzeitig auf der Leinwand vorführt. Stattdessen findet die Geschichte einen organischen, schlüssigen Weg, die neuen Mutanten einzuführen, und weist ihnen relevanten Funktionen innerhalb der Handlung des Films zu. Batman v Superman oder The First Avenger: Civil War gelang das nicht so gut. Wiederkehrende Figuren wie Professor X (James McAvoy), Mystique (Jennifer Lawrence) oder Magneto (Michael Fassbender) brauchen sich jedoch keine Sorgen zu machen, dass ihnen ihr angestammter Platz streitig gemacht würde. Denn wie schon die beiden Vorgänger, so fokussiert sich auch X-Men: Apocalypse stark auf dieses Trio. Für Mystique hält der Film die Rolle eines Vorbilds für die junge Mutantengeneration bereit - eine Position, die sie nicht will, schließlich aber akzeptiert und dafür nutzt, die X-Men in die Schlacht zu führen. Charles Xavier hingegen muss erkennen, wie zerbrechlich all das ist, was er in den 10 Jahren seit den Ereignissen in X-Men: Zukunft ist Vergangenheit aufgebaut hat. Fühlte er sich bislang immer als Beschützer seiner Schüler, sind diese es nun, die für ihren Lehrer durchs Feuer gehen und ihn gegen einen schier übermächtigen Apocalyse verteidigen , dem Xavier selbst nicht gewachsen ist. Seine Schützlinge sind erwachsen geworden - und Professor X wird am Ende des Streifens aus dieser Tatsache wichtige Konsequenzen ziehen. Die mit Abstand komplexeste Figur in X-Men: Apocalypse aber ist Erik Lehnsherr/Magneto. Lehnsherr, der nie wirklich an Xaviers Idee einer friedlichen Koexistenz von Menschen und Mutanten geglaubt hat, gibt ihr aber dennoch eine Chance, nur um erleben zu müssen, wie die Welt ihm alles nimmt, was er liebt. Voll Frust und Trauer ist wird er zum leichten Opfer der Verführungskünste von Apocalypse, der es nicht schwer hat Magneto zu beweisen, dass die Menschheit angesichts all dessen, was sie ihm zugefügt hat, kein Weiterbestehen in ihrem aktuellen Zustand verdient.

Mit dieser Vielschichtigkeit der Charaktere versteht es X-Men: Apocalypse sehr geschickt, den Zuschauer für sich einzunehmen. Byran Singers Film ist mit 144 Minuten nicht gerade kurz, doch stets kurzweilig. Er schafft es von Beginn an, das Publikum für die Protagonisten und Antagonisten zu interessieren, und hält die Aufmerksamkeit aufrecht, indem er mehrere Handlungsfäden webt, die er im Verlaufe des Films immer stärker mit einander verknüpft, ehe die Plotlinien in einem überaus dramatischen Finale kulminieren, das die Weichen für die nächste Etappe in der Entwicklung der X-Men stellt. Gespür beweist der Film aber nicht nur für die Entwicklung von Figuren und für optisch eindrucksvoll inszenierte Action, sondern auch für das Kolorit der Epoche, in der er angesiedelt ist: Da wird Pac-Man gespielt, während im Fernsehen Knight Rider läuft; die Mutanten sehen sich Die Rückkehr der Jedi-Ritter im Kino an; und wenn unzählige Nuklearraketen in den Himmel aufsteigen, dann wirkt es so, als stamme diese Szene direkt aus The Day After. Der Film erschien übrigens 1983 - also jenem Jahr, in dem X-Men: Apocalypse spielt. Die Ausstattung, die Kleidung, die Musik und auch die Frisuren - alles verströmt das Flair der 1980er, sorgt für Authentizität und versetzt den Zuschauer perfekt zurück in diese Ära.

Natürlich muss auch X-Men: Apocalyse sich manchen Blockbuster-Mechnismen beugen. Zum Beispiel dann, wenn die Effektkünstler mal wieder die ganz große Keule auspacken und Baudenkmäler eliminieren dürfen. Wenigstens ist es aber dieses Mal nicht Big Ben oder der Eiffelturm, der dran glauben muss. Ansonsten tut der Film aber sehr viel, um mehr zu bieten als eine große Keilerei zwischen Gut und Böse. Er nimmt seine Figuren ernst, begreift sie als facettenreiche Wesen und lässt sie entweder an Herausforderungen wachsen oder scheitern. Die Optik ist großartig und die Action toll choreographiert, doch neben diesen Popcornkino-Attributen es ist vor allem die menschliche Dimension, die X-Men: Apocalyse so sehenswert macht. Ein richtig guter Superhelden-Film, den man sich nicht entgehen lassen sollte.

X-Men: Apocalypse läuft seit dem 19. Mai 2016 in den deutschen Kinos.


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