Filmkritik: Laurence Anyways (FR/CA 2012)

Filmplakat

Unsere Generation ist bereit dafür. Wir können es schaffen.

Der 34-Jährige Laurence ist Lehrer für Literatur, führt seit zwei Jahren ein bescheidenes, dafür aber umso glücklicheres Leben mit seiner Freundin Frédérique und wird von den Kollegen respektiert und geschätzt. Doch tief in ihm brodelt bereits lange der leidenschaftliche Drang nach der Veränderung, die eigentlich gar nicht erst nötig sein sollte.

Bereits seit 2009 gilt der aufstrebende Xavier Dolan als das Regie-Wunderkind des 21. Jahrhunderts, wurde sein erstes Werk – „I Killed My Mother“ – doch vielfach von der Kritik gefeiert und dem damals erst 20-jährigen Dolan, der bereits im Kindesalter als Schauspieler erste Filmerfahrung sammelte, eine vielversprechende Karriere attestiert. Mit „Laurence Anyways“ entwirft er ein ganz und gar homogenes Bildnis dieser oft nostalgisch verklärten 1990er-Jahre und verankert in ihnen eine allzu untypische Coming Out-Geschichte. Die Protagonisten im Zentrum der Geschichte, Laurence und Frédérique, gleichen zwei Himmelskörpern – Mars und Venus –, deren Anziehungskraft viele kleinere Planeten an sich binden, sie beeinflussen; deren (Lebens-)Bahnen sich immer und immer wieder kreuzen, bei denen eine Kollision alles bedeuten kann: vollkommenes Glück oder zerstörerisches Verderben.

Seine Definition von Liebe immer wieder zwischen körperlicher Leidenschaft und platonischer Seelenverwandtschaft definierend, widersetzt sich der in Montreal geborene Regisseur aufgrund des komplexen Kontextes klar einer herkömmlichen Lost and Reunited-Geschichte und biedert sich durch den beinahe vollständigen Verzicht auf biologische Details (inklusive voyeuristischem Geschlechtsverkehr) nicht der Sensationslust eines Durchschnittsrezipienten an. Die dadurch erzeugte ungezwungene Grundstimmung des Films lässt somit glücklicherweise sogar befreienden Humor zu, der jeder Figur die nötige Lebendigkeit einhaucht, die für ein Zeitportrait dieser Größenordnung unbedingt notwendig ist. Statt sich standardisierten und mittlerweile allzu drögen Emotionsmechanismen hinzugeben, konzentriert er seinen Fokus deutlich auf das kraftvolle soziale Kollidieren seiner Figuren und die damit einhergehenden Konsequenzen. Ihm gelingt es, die Gedanken und Gefühle einer vergangenen Zeit einzufangen und zu komprimieren, befasst sich weniger mit Laurence’ Beweggründen als viel eher mit der Gesellschaft um ihn herum. Dass er es schafft, in diese bereits randvolle Geschichte noch Bürgertums- und Ehe-Kritik in Form von Satire einzuweben, ohne dass es überambitioniert erscheinen würde, ist in Anbetracht seines auch jetzt noch jungen Alters eine durch und durch überraschende Leistung.

Inmitten des energetischen Wirkens seiner Kamera findet Dolan immer wieder Momente der elegischen Ruhe, die er deutlich verspielt, erfreulicherweise jedoch nicht zu prätentiös mit sinnlicher Symbolik anreichert, um die Charaktere Augenblicke später erneut in einem Orkan der Gefühle aufeinanderprallen zu lassen. Musikalisch untermalt wird das ganze mit einer stimmungsvollen Mischung aus zeitgenössicher, moderner und klassischer Musik, welche das Gedankenspiel der antiquierten sexuellen Konventionen nur nochmals unterstreicht, mit dem „Laurence Anyways“ über die ganze Laufzeit kokettiert.

Er zeigt die Möglichkeit einer geschlechterlosen Liebe, ohne sie jedoch unreflektiert zu propagieren – spätestens jetzt hat Dolan die Phase der unbedarften Adoleszenz hinter sich gelassen, wodurch ihm ein erstaunlich reifes und unparteiisches Werk gelungen ist. Scheinbar spielend leicht meistert er die schwierige Gratwanderung zwischen Respekt und schmerzhafter Ehrlichkeit vor seinen Figuren, präsentiert sie als fehlerhafte, verletzliche Wesen. Unsere Mitmenschen bestimmen, ob wir akzeptiert werden oder als Aussätzige leben müssen, wenngleich wir in unserem Inneren doch alle gleich sind. Leider scheinen die Menschen auch dieser Tage noch nicht gänzlich bereit für sexuellen Nonkonformismus; womöglich werden sie es nie sein. Alles, was bleibt, ist die Akzeptanz gegenüber uns selbst. Und die Hoffnung, irgendwann das berauschende Wunder der bedingungslosen Liebe am eigenen Leib erfahren zu dürfen.

 Filmkritik: Laurence Anyways (FR/CA 2012)

7,0 / 10



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