Es gibt nicht viele Filme, denen es gelungen ist, der Academy of Motion Picture Arts and Sciences eine neue Kategorie für die alljährlich stattfindende Oscar-Verleihung abzuverlangen. Dem Filmemacher David Lynch gelang genau das mit seinem zweiten Werk Der Elefantenmensch in 1980. Nachdem sich die Academy großer Kritik gegenüber sah, nicht die Makeup-Effekte des verunstalteten John Merrick (John Hurt) gewürdigt zu haben, entstand im Nachhinein der Academy Award für “Bestes Make-up und Beste Frisuren”, dessen erster Preisträger dann leider ein anderes Monster wurde: American Werewolf in 1982.
Der Elefantenmensch wiederum hat seine ganz eigenen Kreise gezogen und gilt heute als einer der besten Filme David Lynchs – obwohl es schwer ist, seine Filme miteinander zu vergleichen oder gar anderen Filmen gegenüber zu stellen. Der Elefantenmensch fühlt sich aber schon arg nach Das Cabinet des Dr. Caligari an, jenen 1920er expressionistischen Stummfilm von Robert Wiene, an dem sich Lynch zumindest vom Stil her orientiert haben dürfte.
Wir bekommen das einmalige Schattenspiel Wienes, übertragen auf das viktorianische London zu sehen. Hier schreiten Männer mit hohen Hüten durch vernebelt-schattige Gassen, wo sich ihre Silhouetten zur unruhigen Musik von John Morris auf Steinmauern widerspiegeln.
Ebenso bewegt sich Anthony Hopkins als Chirurg Frederick Treves über ein Zirkusgelände, besichtigt eine Freakshow – der Ort des Geschehens auch bei Robert Wiene, wo sein Dr. Caligari den gruseligen Somnambulen Cesare aus- und vorstellt. David Lynch zeigt hier bereits mit seinem nur zweiten Film, dass er durchaus in der Lage ist, aus der Vergangenheit zu zitieren, seine eigenen Bilder einzuwerfen und damit eine beunruhigende Horror-Atmosphäre aufzubauen.
Der Elefantenmensch
" data-orig-size="1000,418" sizes="(max-width: 890px) 100vw, 890px" aperture="aperture" />Der Elefantenmensch John Merrick (John Hurt) und Chirurg Frederick Treves (Anthony Hopkins)
Damit führt uns der Film ebenso an der Nase herum, wie es der Elefantenmensch unwissend und ungewollt mit seinen Mitmenschen tut – oder sie es selbst für sich tun, da sie den entstellten John Merrick nur an der Oberfläche betrachten, während sich in seinem Herzen ein intellektuell-kultivierter Mann verbirgt.
John Merrick heißt eigentlich Joseph Merrick und gilt als schlimmster Fall von körperlicher Deformierung im damaligen London – ja, richtig: diesen Mann hat es wirklich gegeben und David Lynch hat sich bemüht, die Deformierungen möglichst detailgetreu darzustellen. Dafür hat er sich mit seinen beiden Mit-Drehbuchautoren Christopher De Vore und Eric Bergren an “The Elephant Man and Other Reminiscences” von Frederick Treves und an Ashley Montagues “The Elephant Man: A Study in Human Dignity” orientiert.
Im Film wird Merrick (Hurt) als Elefantenmensch in der Freakshow von Mr. Bytes (Freddie Jones) ausgestellt und den größten Teil seiner Zeit unter einer Kapuze versteckt. Sein Peiniger betrachtet ihn als abnormal, wird dann aber von Frederick Treves (Hopkins) dafür bezahlt, sein Ausstellungsstück in dessen Krankenhaus zu bringen, wo er untersucht werden soll. Der Leiter der Einrichtung (John Gielgud) ist allerdings dagegen, Merrick hier unterzubringen, da das Krankenhaus sich nicht um unheilbare Patienten kümmern solle. Aber Treves überzeugt den Mann, als er dem Elefantenmenschen einige zu sprechende Sätze beibringt. Fortan arbeiten die beiden weiterhin zusammen, Merrick bleibt aber immer auch eine Attraktion.
Es ist wunderbar jetzt noch einmal einen jungen Anthony Hopkins zu erleben, der uns mit all seinem schauspielerischen Können gegenüber steht. Während er in späteren Jahren oftmals nur noch Menschen (oder Hannibal Lecter) verkörpert hat, die ihrem Gegenüber zumeist überlegen waren, dürfen wir ihn hier in Erstaunen versetzt sehen, zu Tränen gerührt, wenn er zum ersten Mal John Merrick zu Gesicht bekommt.
Ebenso faszinierend ist es, den großartigen John Hurt in der Rolle des Elefantenmenschen zu sehen, wie er unter all den körperlichen Entstellungen dennoch in der Lage ist, ein Schauspiel abzuliefern, dass uns in all seinen Facetten an diese Figur binden kann. Der Film lastet stark auf den Schultern der Freundschaft von Frederick Treves und John Merrick, wofür David Lynch in Hopkins und Hurt ein perfektes Duo gefunden hat.
Der Elefantenmensch
" data-orig-size="1000,413" sizes="(max-width: 890px) 100vw, 890px" aperture="aperture" />Anthony Hopkins gibt sich erstaunt beim Anblick des Elefantenmenschen John Merrick.
Nichtsdestotrotz ist Der Elefantenmensch mit einer Laufzeit von knapp über zwei Stunden viel zu lang geraten und vereinfacht und sentimentalisiert die Geschichte arg. John Merrick lernt das Sprechen binnen weniger Szenen und verwandelt sich in kürzester Zeit zu einem eloquenten Redner, obwohl man sich bei der Gesamtlaufzeit hierfür mehr Zeit hätte einräumen können.
Das macht den Film weniger zu einer biografischen Aufarbeitung und mehr zu einem Werk der puren Fiktion, wenn auch basierend auf einer real-weltlichen Vorlage. Der Elefantenmensch vereint dabei literarische Fantasy vom Glöckner von Notre Dame, vom Biest ohne seine Schöne, vom Phantom, das gerne seine Zeit in der Oper fristet. Und dabei gelingt es Lynch uns über die eigene Sicht auf Oberflächlichkeiten nachdenken zu lassen.