Feels Like Nineteen Eighty Six

Die Katastrophe in Japan hat mich ebenso getroffen wie fassungslos gemacht. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, als mir immer neue Hiobsbotschaften anzusehen. Meine Gedanken sind bei den Opfern des Erdbebens und des Tsunamis.

Aus aktuellen und vielleicht nachvollziehbaren Gründen lege ich die für heute geplante Miszelle „’Caveat’ heißt ‘Hüte dich’“ nach hinten und schreibe etwas über das Jahr 1986. Ja, vor 25 Jahren „war Tschernobyl“.

Wenn ich zurück denke, war 1986 vielleicht das glücklichste Jahr meines Lebens, zumindest das unbeschwerteste. Ich war 17, in der Oberstufe und zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich „so richtig die Sau raus“. Ich hörte laute „New Wave“ Musik (zum Leid meiner Großeltern) und verbrachte viele Nächte in noch lauteren, düsteren Discos. Trank zu viel, rauchte zu viel und malte schwarze Ränder um meine Augen. Mit anderen Worten: ich war normal. Mein Leben drehte sich vor allem um Schule, Mädchen und die „Sisters of Mercy“. Ich war jung, einigermaßen gesund, ich hatte Freunde (und Freundinnen!), die Welt war mein Schalentier und ich ihre schwarze Perle. Ich war das totale Arschloch. Ich war ein Teenager.

Was ist sonst noch hängen geblieben? Tschernobyl. Was damals vorfiel, kann man in der Wikipedia nachlesen oder, wenn man sich wirklich interessiert, in den Archiven zusammentragen. Wie wir uns fühlten, kann man da nicht sehen. Warum hat ausgerechnet dieser „Super GAU“ („Größerer Größtmöglicher Anzunehmender Unfall“) die Wolken aus Hasch und Hormonen durchdrungen, mit denen in meinem persönlichen Gedächtnis 1986 eingenebelt ist?

Erst mal war ich ein Jahr vorher in der Nähe von Tschernobyl. Im Zuge einer Studienreise in die UdSSR war ich auch ein paar Tage in der Ukraine. Die Fernsehbilder, die Männer in Strahlenschutzanzügen in den Straßen von Kiew zeigten, erinnerten mich daran, dass ich ein Jahr zuvor selber durch diese Straßen gegangen (oder gegängelt worden) war. Ich fragte mich, was aus dem netten Reiseführer geworden ist oder dem Kellner, der illegal meine Mark in Rubel getauscht hatte, die ich bis zum Ende der Reise nicht hatte ausgeben können.

Dann arbeitete mein Großvater, vermutlich um für meinen Tabak- und Alkoholkonsum aufzukommen, neben seiner eigentlichen Arbeit auf der Zeche auch noch morgens auf dem Großmarkt. Und dort spielten sich dann seinen Berichten nach wirklich Szenen ab wie aus einem Katastrophenthriller. Jede Gemüsekiste aus dem Osten und Norden (die radioaktive Wolke war nach Skandinavien gezogen) musste mit dem Geigerzähler untersucht werden. Pilze, die wohl radioaktives Cäsium besonders gut speichern, wurden gleich vernichtet.

Man kann auch die Informationssituation nicht mit heute vergleichen. Das Internet gab es natürlich noch nicht (in der heutigen Form) und unsere Informationen kamen aus dem Fernseher, dem Radio und dem Hörensagen. Die Ukraine war zudem damals noch Teil der Soviet Union und trotz „Perestroika“ wurde vieles gefiltert, was nach außen drang. Dafür lernte wir viele neue Wörter. Wir wussten plötzlich, dass „Becquerel“ keine Diätmargarine ist, sondern eine Einheit, die radioaktiven Zerfall angibt. Millirem, so lernten wir, schmiert man sich nicht aufs Brötchen, sondern versuchte man zu meiden. Möglichst weit weg von Tschernobyl zum Beispiel.

Es herrschten Angst und Verunsicherung. Gerade weil die Gefahr konkret, aber auch irgendwie ungreifbar war (Strahlen kann man nicht sehen, hören, schmecken, riechen), löste der GAU teils unsinnige Reaktionen aus. Kinder durften nicht im Regen spielen, der Import von Elchfleisch aus Skandinavien wurde verboten.

Gegen Angst als Motivation habe ich hier immer schon angeschrieben.Da kann nichts Gutes bei rum kommen. Aber spätestens seit Tschernobyl hat zumindest Europa, oder besser der nördliche Teil Europas, begriffen, dass die Folgen eines Unfalles bei der Kernenergie kein schlichtes „Oops“ sind. Staaten haben reagiert, Kernenergie wurde als Auslaufmodell behandelt. Aber plötzlich wird das Öl knapp, das Klima ächzt unter dem Kohlendioxid und AKWs sind wieder sexy. Japan zeigt leider auf tragische Weise, dass Atomkraft nicht sexy, sondern hochgefährlich ist. Angst sollte keine Motivation sein, aus dieser Energieform möglichst schnell auszusteigen und zwar nicht nur in Deutschland sondern weltweit. Strahlen machen nicht vor Grenzen halt. Meiner Meinung nach gebietet das die Vernunft.

Fukushima sollte endgültig zeigen, dass Murphys Gesetz im Zusammenhang mit der Kernenergie kein Spaß ist und dass, wenn etwas schief gehen kann, es schief gehen wird. Wenn Menschen ihre Finger im Spiel haben, stehen die Chancen dafür gut.



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