FARBEN DER MODERNE in Halle – Nachts im Theater

FARBEN DER MODERNE in Halle – Nachts im Theater

Viel zu lange war ich nicht als Theaternomadin unterwegs. Andere Aufgaben forderten leider (und wunderbarerweise) meine volle Aufmerksamkeit. Zum Glück hatten die Oper und Staatskapelle Halle aber ein Angebot, das dieses Defizit auszugleichen versprach: 12 Stunden zeitgenössische Musik am Stück. Das klang nicht nur absolut irre, sondern auch absolut großartig. Das klang nach einer intellektuellen, emotionalen und sogar körperlichen Herausforderung. Und die nahm ich nach meiner langen Abstinenz dankend an.

Heterotopia bei Nacht

Besonders neugierig war ich auf die sogenannte Raumbühne Heterotopia, die Sebastian Hannak entworfen hat und die bereits mit den Neuproduktionen Der fliegende Holländer, und Kein schöner Land! eingeweiht wurde . Nach Angaben des brandneuen Intendanten Florian Lutz kostet dieser Aufbau so viel wie drei konventionelle Bühnenbilder - da aber mehr als drei Stücke in diesem Raum gespielt werden, sei es ein Schnäppchen. Was also ist das besondere an dieser Bühne? Das Parkett wurde vollständig überbaut und mit Bänken, Sesseln, Sofas und Stehlampen versehen. Von dort aus gelangt man über seitliche Stege am Orchestergraben vorbei auf die Bühne, wo ebenfalls Bänke zur freien Platzwahl einladen. Der Graben selbst wurde mit Schaumstoffquadern gefüllt und erinnert nicht zufällig an ein gemütliches Bällchenbad für Erwachsene. An der hinteren Seite der Bühne sind mehrere, offen einsichtige Wohnräume in mehreren Etagen angeordnet - Küche, Wohnzimmer, Badezimmer, Schlafzimmer. All diese eklektisch eingerichteten Räume sind jederzeit betretbar und vermitteln die Atmosphäre einer WG-Party, bei der man ständig neuen Perspektiven, neuen Gesprächspartnern und neuen Ideen begegnet.

20-24 Uhr: Erstmal ankommen

Die ersten vier Stunden ähnelten wie erwartet einem relativ normalen Konzertbesuch. Zu Beginn versammelten sich die Zuschauer nur im Bereich des Saals - der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Aber schon bald war das Eis gebrochen und die Gäste tummelten sich an der Bar, kamen ins Gespräch und kehrten vergnügt zum musikalischen Zentrum zurück. Dieses war extrem gut gelaunt - durften doch die Musiker ihre Lieblingsstücke und sogar eigene Kompositionen zum besten geben. Und nicht nur diese durchweg positive Energie, sondern auch das klug und nachvollziehbar strukturierte Programm trugen den geneigten - und angenehm beschwipsten - Zuhörer durch die Nacht.

Nach dem ersten Block, der sich auf Werke für Streicher konzentrierte, folgten Stücke für unterschiedliche Schlagwerkbesetzungen. Für Begeisterung sorgten nicht nur tanzbare und urtümliche Rhythmen, sondern auch meditative Minimal Music von Steve Reich. Interpretiert unter anderem vom mitreißenden Schlagwerker Ivo Nitschke. Um sich vom lautstarken Applaudieren zu erholen, konnte man sich anschließend an Frikadellen, Würstchen und Kartoffelsalat gütlich tun. Die letzten Minuten des Sonntags wurden mit einem besonderen Werk von Howard J. Buss gefüllt, das nicht nur Schlagwerk und Altflöte in Aktion zeigte, sondern auch den charmant-kauzigen Schauspieler und Sprecher Martin Reik vorstellte. Ein skurriles Werk, das mit Humor das Leben unserer Zeit nachzeichnet.

0-4 Uhr: Kaffee, Kaffee, Kaffee!

Nach Mitternacht spürte ich die ersten Symptome von Müdigkeit und war nicht die einzige, die in weiser Voraussicht sofort von Bier zu Kaffee wechselte. Im ersten Block des neuen Tages wurde unter anderem ein Stück von Sarah Nemtsov vorgestellt. Die Komponistin wurde in dieser Spielzeit mit der Komposition einer neuen Oper beauftragt. Strukturell konnte ich dem Stück Moon at Noon leider nicht folgen und auch die beschriebene Inspiration durch unterschiedliche Gedichte blieb mir in dieser kurzen Anhörung verborgen. Diese Skepsis dauerte aber nicht lange an. Auf dem weiteren Programm stand ihr Werk Laterna magica / Combray für präparierte Harfe, Klavier, Schlagzeug und Brummkreisel. Das sind diese bunten metallenen Spielzeuge, die man durch wiederholtes Drücken zum Drehen und eben auch Brummen bringen kann. Leider war die Komponistin nicht selbst anwesend, um diese Instrumente zu bedienen - sie wurde aber glänzend von Martin Reik vertreten, der sich die Einsätze vom jederzeit souveränen Pianisten Peter Schedding holte. Ob diese Komposition gut oder schlecht war, vermag ich im Nachhinein überhaupt nicht zu sagen. Die Aufführung als Happening war aber in jedem Fall ein voller Erfolg und sorgte für Gelächter und wache Gesichter.

4-8 Uhr: Gänsehaut bis zum Morgengrauen

Um 4 Uhr war ich emotional und physisch bettfertig. Seit zwei Stunden standen Feldliegen bereit - komfortablere Schlafmöglichkeiten in echten Betten und gepolsterten Badewannen musste man vorher reservieren. Der Ehrgeiz hielt mich aber trotz beginnender Übelkeit durch Übermüdung wach und so legte ich mich auf der Bühne nieder und hoffte auf bisher ungekannte Energiereserven. Schauspieler Martin Reik, der in den vergangenen Stunden offensichtlich auch mit Müdigkeit zu kämpfen hatte, lullte uns nun eine ganze Stunde lang mit den Worten von John Cage ein: „Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen." Eine gewohnt geniale und sinnlose Rede des vielseitigen Künstlers, die wohl zu keiner passenderen Uhrzeit vorgetragen werden kann als 5 Uhr morgens, irgendwo zwischen Halbschlaf und beginnendem Kater. In der einstündigen Pause wurde bereits das Frühstück im neu gestalteten Operncafé serviert. Um 6 Uhr ging es dann mit dem vorletzten und meinem persönlichen Höhepunkt des Konzerts weiter. Der 1. Kapellmeister Michael Wendeberg am Klavier und Ying Zhang an der Violine trugen uns mit wacher Leidenschaft Werke von Olivier Messiaen vor und zerschlugen damit jeden möglichen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Unternehmens, keine Minute Musik zu verpassen. Die dann folgenden Werke für Bläser läuteten den letzten Teil des Musik-Marathons ein. Mit viel Humor von Luciano Berio und seinem Opus Number Zoo und den offensichtlich ausgeschlafenen Musikern wurden die FARBEN DER MODERNE angemessen beendet.

Der Tag danach

Den gesamten folgenden Tag musste ich Schlaf nachholen, meinen Wasserhaushalt regulieren und kämpfte mit Konzentrationsproblemen. Das war es wert. Absolut. Denn genau das muss Theater sein - es sollte mich zwingen, Entscheidungen zu treffen, es sollte zur Kommunikation anregen, mich kritikfähig machen und mich berühren, es sollte nicht nur ein visuelles und auditives, sondern auch ein körperliches Erlebnis sein.

Ich bin gespannt, welche einmaligen Erlebnisse die Oper Halle sonst noch zu bieten hat.

Videobericht des MDR Sachsen-Anhalt vom 3. Oktober 2016

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