Falsche Selbstkritik

Beim vormittäglichen, semesterferienadäquaten Herumwuseln im Internet bin ich über mehrere Ecken – ich weiß garnicht mehr genau welche – auf einen recht gehaltvollen Artikel zur Kritik am Mythos 1968 aus dem Jahr 2008 gestoßen: Selbstverklärung bis zum Autismus. Ich lese und finde eigentlich alles ganz richtig und bedenkenswert. Doch dann das Fazit: „Was man aus – nicht: von – »1968« lernen kann, ist dies: eine radikale Selbstkritik der Intellektuellen.“ „Radikale Selbstkritik der Intellektuellen“– dafür bin ich erstmal zu haben, solange sie nicht in einen selbsthassenden Kultus des „einfachen Mannes“ mündet. Doch wie sieht diese „radikale Selbstkritik“ aus? „»Die Praxis freizuschaufeln vom Gerümpel der Theorie, die Besatzungsmacht, als die sie sich gegenüber der Praxis aufspielt, zu vertreiben (…), ist die vornehmste (…) Aufgabe für die theoretische Reflexion«, hat es Ilse Bindseil auf den Punkt gebracht. Übrigens eine Achtundsechzigerin.“
Bereits die Metapher „Besatzungsmacht“ stößt sauer auf – zu sehr erinnert sie an die – in den 70ern auch sehr handgreiflich geführten – deutschen Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus. Verbunden mit der impliziten Gleichsetung Deutschland/unterdrückte Völker aller Länder=Praxis=das Unmittelbare/Gute vs. USrael/kulturlose Ausbeuter=Theorie=das Vermittelte/Böse ergeben sich für den sprachkritisch geschulten Kopf nur allzu gut bekannte Denkmuster: die unmittelbare Praxis soll endlich von dem schmarotzerhaften Dasein der dekadenten Intellektuellen erlöst werden. Die so befreite gesunde Praxis kann sich dann endlich vom unreflektierten Ressentiment leiten lassen, muss sich nicht mehr vom besserwisserischen Geschwätz der ohnehin neurotischen Theoretiker bevormunden lassen. So, als wären „die Arbeiter“ weniger konsumistisch oder neurotisch als „die Intellektuellen“.
Ein Beispiel, wie das Ende eines Textes seinen gesamten vorhergehenden Inhalt ins Krude rücken kann. Eine Selbstkritik der Intellektuellen sollte zuallererst auch an falscher intellektueller Selbstkritik geübt werden. Stets eingedenk, wer es in der Geschichte stets war, der „intellektuell“ als Schimpfwort gebrauchte und von „zersetzender Intelligenz“ sprach.


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