Evolution und Humanismus zwischen Zufall und Notwendigkeit

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Der (lei­der erst) jetzt vor­lie­gende Band 5 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern ver­sam­melt 13 Beiträge der Tagung „Die Fruchtbarkeit der Evolution, die vom 20. bis zum 22. Mai 2009 in Nürnberg statt­ge­fun­den hatte. Anlaß für diese Tagung war das „Darwin-Jahr“, das sowohl dem 200. Geburtstag des Naturforschers Charles Darwin als auch dem 150. Jahrestag der Erstausgabe sei­nes Hauptwerkes „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ gewid­met war.

Herausgeber Helmut Fink, ein Dipl.-Physiker, ver­weist in sei­ner Einleitung auf den untrenn­ba­ren Zusammenhang von „Evolution und Humanismus”. Denn nur „die Prinzipien der Evolution ermög­li­chen natu­ra­lis­ti­sche Erklärungen für die Entstehung, den Wandel, den Erfolg oder Misserfolg der unter­schied­li­chen Lebensformen. Die Evolution ord­net den Menschen ein in das weit ver­zweigte Geflecht des Lebens.” (S. 9)

Weiter heißt es bei Fink: „In vor­auf­ge­klär­ten Zeiten war das ‚Woher‘ des Menschen – genau wie sein ‚Wohin‘, ‚Wozu‘ oder ‚Woraufhin‘ – eine Domäne der Religion. (…) Humanismus bezeich­net in die­sem Zusammenhang eine welt­an­schau­li­che Strömung, die sich über­na­tür­li­cher Aussagen ent­hält und kei­nen Gott, son­dern den Menschen selbst in den Mittelpunkt ihrer Über­le­gun­gen stellt. Gemeint ist somit aus­drück­lich ein welt­li­cher oder säku­la­rer Humanismus, inner­halb des­sen die Adjektive ‚evo­lu­tio­när‘ oder ‚natu­ra­lis­tisch‘ einen bewusst gewähl­ten inhalt­li­chen oder metho­di­schen Ausgangspunkt geben.” (S. 10)

Ausführlich geht der Autor dann auf die „Verträglichkeitsbedingung an die Religionen” ein. Er stellt dazu Fragen, die eigent­lich schon die Antworten selbst sind:

„Wieso soll gerade Jesus von Nazareth beson­de­res Vertrauen ver­die­nen, obwohl seine Prophezeiung des nahen Weltendes nach­weis­lich nicht ein­ge­tre­ten ist? Wieso soll aus­ge­rech­net Mohammed beson­ders ehren­wert sein, obwohl schon viele vor ihm und viele nach ihm Religionskriege ange­zet­telt haben? Wieso sol­len Beschneidungen erlaubt, aber Sterbehilfe ver­bo­ten sein, obwohl die Interessen der heu­ti­gen Menschen bestimmt nicht unre­flek­tier­ter sind als die Moralsedimente ver­gan­ge­ner Jahrtausende? (…) Wieso soll ‚Gott‘ gerade in den Riten und Verkündigungen unse­res Kulturkreises prä­sent sein, wo doch zu ande­ren Zeiten und an ande­ren Orten damit Unvereinbares genauso inten­siv geglaubt wurde? (…) Wieso ist ‚Gott‘ männ­lich und nicht weib­lich? Wieso soll er einen Sohn haben, aber keine Tochter?” (S. 16)

Lt. Fink gehört es auch daher „zu den zen­tra­len Kulturzielen des säku­la­ren Humanismus, den Mut freien Denkens und der Neugier des for­schen­den Geistes öffent­li­che Anerkennung und dau­er­hafte Wertschätzung zu sichern.” (S. 18)

Darwins huma­nis­ti­sches Erbe

Um „Darwins umkämpf­tes Erbe” geht es im Beitrag des Philosophen Michael Schmidt-Salomon mit dem Untertitel „Die Evolutionstheorie im welt­an­schau­li­chen Widerstreit”. Seine Aussagen kann man in zwei Thesen zusam­men­fas­sen: „Wissen statt Glauben – Warum sich die Evolutionstheorie nicht mit tra­di­tio­nel­len Glaubensformen ver­ein­ba­ren lässt” und „Darwins huma­nis­ti­sches Erbe – Die Graswurzelrevolution des evo­lu­tio­nä­ren Humanismus”. Schmidt-Salomon beklagt den deut­schen Bildungsnotstand, wo die „Evolutionstheorie in den Schulen, wenn über­haupt, nur am Rande behan­delt wird.” (S. 34) Einwurf: Diese Aussage gilt aller­dings nicht für die Schulen in der wei­land der DDR, da war man sei­ner­zeit doch bedeu­tend wei­ter…

Zuzustimmen ist Schmidt-Salomon aber unbe­dingt in die­ser sei­ner Antwort auf Vorhaltungen des Klerus und der dem Klerus freund­lich gesinn­ten Professoren und Journalisten: „Der evo­lu­tio­näre Humanismus ist kein Religionsersatz, keine säku­lare Pseudoreligion, son­dern eine echte Alternative zur Religion!” (S. 37)

„Kritische Gedanken zu einer gro­ßen Idee” steu­ert der Philosoph und Physiker Gerhard Vollmer bei, wenn er fragt: „Ist Evolution wirk­lich über­all?” Er stellt fest, daß die Evolutionstheorie viele, sehr viele wis­sen­schaft­li­che Disziplinen berei­chert habe. Beispielhaft zählt er diverse „evo­lu­tio­näre Theorien in Wissenschaft und Philosophie” auf. Er weiß aber auch: „Die Evolutionstheorie ist ein Stück Aufklärung, und Aufklärung ist nicht über­all will­kom­men.” (S. 57) Ja, sie ist da nicht will­kom­men, wo Aufklärung den tota­len Machtanspruch von Priesterkasten über den Menschen und die Gesellschaft in Frage stellt!

Der Anthropologie-Professor Winfried Henke zieht unter der Über­schrift „Die ehren­rüh­rige ‚Affenfrage‘” eine „paläoanthropologisch-primatologische Bilanz”. Er ver­mit­telt wis­sen­schaft­lich fun­dierte Antworten – mit Bezug auf sich ste­tig ver­tie­fende Forschungsergebnisse welt­weit – auf die Frage, woher der Mensch kommt und woher er als Individuum und Gattung, ein­schließ­lich sei­ner Verbreitung über den gesam­ten Erdball, geht.

Ernst Peter Fischer ist Physiker, Biologe und Wissenschaftshistoriker. Er schreibt, Henkes Ausführungen ver­tie­fend, über „Darwins Gedanke und seine Verbindung zum Menschen”: „Licht wird auch fal­len auf den Menschen und seine Geschichte”.

Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits geht auf „Darwins Hoffnung auf den künf­ti­gen Menschen” ein und stellt die Grundsatzfrage, ob der Mensch „Von Natur aus böse/gut?” sei. Wuketits wür­digt hier Darwin als „einen Begründer der evo­lu­tio­nä­ren Ethik und des evo­lu­tio­nä­ren Humanismus”:

„Es gehört zu Darwins außer­or­dent­li­chen Lösungen, die (mensch­li­che) Moralfähigkeit auf ein evo­lu­ti­ons­ge­schicht­li­ches Fundament gestellt und schlüs­sig gezeigt zu haben, dass Moral nicht vom Himmel gefal­len sein kann, son­dern Bestandteil unse­rer Naturgeschichte ist. (…) Diejenigen, die daran glau­ben, dass Werte und Normen von ‚Gott‘ gege­ben seien und daher abso­lut sind, kön­nen oder wol­len sich nicht vor­stel­len, dass Menschen auch dann mora­lisch han­deln kön­nen, wenn sie nicht an ‚Gott‘ glau­ben – weil sich Wertvorstellungen und Normen in jeder Gesellschaft nach dem Prinzip der Selbstorganisation ent­wi­ckeln und eine Gesellschaft gänz­lich ohne Regeln des Zusammenlebens ihrer Mitglieder nicht exis­tenz­fä­hig wäre.” (S. 123/124)

Gläubigkeit, Religiosität, Religion

Philosophie, Biologie und Germanistik hat der Wissenschaftspublizist Rüdiger Vaas stu­diert. Vaas hat aus Sicht des Rezensenten den wohl bemer­kens­wer­tes­ten Beitrag zu die­sem Sammelband beige­steu­ert. Er schreibt über „Die neue Schöpfungsgeschichte Gottes – Herausforderungen einer Evolutionsbiologie der Religiosität”.
Er wirft u.a. so wich­tige Fragen auf, wie:
- „Was ist Religiosität eigent­lich, und was ist Religion?
- Ist Religiosität eine evo­lu­tio­näre Anpassung?
- Worin beste­hen die Selektionsvorteile der Religiosität, falls diese über­haupt exis­tie­ren?”
Und Vaas lie­fert für mög­li­che Antworten zunächst Definitionen für die oft unscharf ver­stan­de­nen und benut­zen Begriffe Gläubigkeit, Religiosität und Religion. Dabei hebt er her­vor, daß das Selbst- und das Todesbewußtsein die Ursprünge aller Religionen sind und er benennt auch die wich­tigs­ten Quellen des Glaubens. Ebenso benennt er die wesent­li­chen psy­chi­schen und sozia­len Randbedingungen für das Aufkommen und Wirken von Religionen.

Vaas schreibt deut­lich über den frag­wür­di­gen Nutzen von Religionen: „Zusammenfassend lässt sich fest­hal­ten: Während Religionen selbst reine Kulturprodukte sind, hat die ihnen vor­aus­ge­hende Religiosität bio­lo­gi­sche Grundlagen. (…) Und selbst wenn Religionen mit einem evo­lu­tio­nä­ren Nutzen bzw. Selektionsvorteil ver­bun­den waren oder sind, folgt dar­aus selbst­ver­ständ­lich nicht, dass sie des­halb auch wahr oder ethisch gut sind. (…) Was einst nütz­lich war, kann jetzt und künf­tig schäd­lich sein. (…) Angesichts des uner­mess­li­chen Leids, das auch im Namen von Religionen (…) über­all auf der Erde ver­ur­sacht wurde und wei­ter­hin wird, reicht die natur­wis­sen­schaft­li­che Erforschung der Religiosität und des blin­den Glaubens über ein rei­nes Erkenntnisinteresse weit hin­aus.” (S. 161 – 163)

Lesenswert sind auch die bei­den mit „Darwin-Code” über­schrie­be­nen Beiträge von Sabine Paul („Geheimwaffe Kunst und die Entstehung der Religion”) und Thomas Junker („Helden und Terroristen – die evo­lu­tio­näre Logik der Selbstmordattentate”).

Die Biologin (!) Sabine Paul wirft die Frage auf, ob Darwins Evolutionstheorie auch die Entstehung von Kunst und Religion erklä­ren kann. Für sie ist die Religion die „jün­gere, unsym­pa­thi­schere Schwester der Kunst”. Paul geht auch auf den Dualismus ein, der so gerne von inter­es­sier­ter Seite zwi­schen Wissenschaft und Religion auf­ge­baut wird und kon­sta­tiert knapp und prä­zise: „Die Frage lau­tet daher nicht, ob Wissenschaft und Religion mit­ein­an­der ver­ein­bar sind oder nicht. Stattdessen kann man die Schlussfolgerung zie­hen: Wer Wissenschaft und Kunst hat, braucht keine Religion.” (S. 180). Und – genau das waren auch die Schlußfolgerungen z.B. von Studenten der Kulturwissenschaften an den DDR-Universitäten.

Für den Biologen Thomas Junker ist das zeit­ge­nös­si­sche Phänomen der Selbstmordattentäter (Stichwort „isla­mi­scher Terror”) nicht allein Ausdruck von Religionen und schon gar nicht Ausdruck einer ein­zi­gen bestimm­ten Religion. Er betrach­tet die­ses Phänomen aus evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­scher Perspektive und fin­det bio­lo­gi­sche Erklärungen für diese beson­dere Form von Altruismus und Selbstaufopferung. Junker ver­tritt die Auffassung, daß das Phänomen der Selbstmordattentäter nur dann ver­schwin­den wird, wenn die herr­schen­den Mächte der Welt die wirt­schaft­li­chen, sozia­len und ethnischen/nationalen Interessen der Menschen, Volksgruppen, Nationen respek­tie­ren, die von ihnen öko­no­misch aus­ge­plün­dert wer­den und/oder (was Junker expli­zit lei­der nicht sagt) mit „Menschenrechtskriegen” über­zo­gen wer­den.

Nicht nur über Biologie-Unterricht

Der Professor für Verwaltungswirtschaft Rainer Prätorius schreibt unter der Über­schrift „Von Amerikanern und Affen” über „Die schwie­rige Positionierung des Säkularismus in den USA”.

Über das dort nur kurz geschil­derte mag man als zivi­li­sier­ter Mitteleuropäer nur noch die Hände über den Kopf zusam­men­schla­gen…

Nicht anders aber ergeht es dem Leser, wenn er sich dem Beitrag von Dittmar Graf (Darwin macht Schule – Evolutionstheorie im Unterricht”) zuwen­det. Und der Biologie-Didaktiker schreibt hier über ori­gi­när deut­sche Zustände (kon­kret Biologie-Unterricht) zu wil­hel­mi­ni­schen Zeiten und auch in der Weimarer Republik, wäh­rend des soge­nann­ten Dritten Reiches und nicht min­der in bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Ära. Leider kommt die DDR nicht vor, denn dann hätte es einen Lichtblick inner­halb die­ser trü­ben Bilanz gege­ben. Und lei­der gibt der Autor per Fußnote auch zu ver­ste­hen, daß er von Marx nichts begrif­fen hat…

Einen ähn­li­chen Vorwurf muß man dem Ethiker Rudolf Kötter („Das Forschungsprogramm der Evolutionstheorie – Erklärungsansprüche und Erklärungsformen”) machen, wenn er pau­schal von der „auch unter Biologie-Lehrern verbreitete(n) Ansicht, im Schulunterricht soll­ten neben der Evolutionstheorie auch andere Vorstellungen zur Entwicklung des Lebens zur Sprache gebracht wer­den” (S. 225) schreibt. Auch hier kommt die DDR-Schule nicht vor, wo sol­ches undenk­bar gewe­sen wäre (also bib­li­sche Mythen oder Kreationismus über­haupt zu leh­ren, die­ses auf eine Stufe mit den Naturwissenschaften zu stel­len)!

Gedanken über den Fortschritt

Dennoch, der Philosoph Gerhard Engel ist trotz aller gesell­schaft­li­chen Rahmenbedingungen über­zeugt vom „Evolutionäre(n) Humanismus als skeptische(r) Theorie kul­tu­rel­len Fortschritts”, auch wenn sei­nen Beitrag „Alles wird gut?” mit einem Fragezeichen ver­se­hen hat. Er setzt sich zunächst inten­siv mit dem Fortschrittsbegriff, den ver­schie­de­nen Fortschrittsbegriffen aus­ein­an­der, auch mit bio­lo­gi­schen und sozio­lo­gi­schen Fortschrittsvermutungen sowie der weit ver­brei­te­ten Fortschrittsskepsis. Engel benennt dann die „Elemente einer Theorie sozia­len Fortschritts” sowie die „Elemente einer Theorie kul­tu­rel­len Fortschritts”. In sei­ner Schlußbemerkung plä­diert für den Fortschritt, da die exis­tie­rende Welt ver­bes­se­rungs­be­dürf­tig sei: „Evolutionäres Denken bedeu­tet näm­lich, das Existierende immer als Vorstufe der ‚Entstehung des Neuen‘ auf­zu­fas­sen – und der Entstehung des Besseren. Dem Menschen (und nur ihm) ist es vor­be­hal­ten, seine Geisteskräfte dafür zu nut­zen, in die­sem Sinne einen Fortschritt zu erzie­len – also im Interesse aller Menschen an schöp­fe­ri­schen Synthesen und an schöp­fe­ri­schen Konflikttransformationen zu arbei­ten. Eines der Ziele des Evolutionären Humanismus ist es, das Bewusstsein für den Wert einer sol­chen Heuristik aus­zu­bil­den – und dadurch den Menschen zu bil­den.” (S. 283)

Der Wert die­ser Publikation liegt darin, daß sie für die Begründung einer Humanistischen Weltanschauung, für eine Humanistik als Wissenschaft, natur­wis­sen­schaft­li­che Erkenntnisse anbie­tet. Ein Ansatz, der von Humanisten (egal ob Mitglied im HVD oder nicht) unbe­dingt wei­ter ver­folgt wer­den sollte. Bisherige Konferenzen und Publikationen waren noch zu sehr „geis­tes­wis­sen­schafts­las­tig”. Auch wenn viele der hier vor­ge­leg­ten Artikel eher von Fachleuten für Fachleute geschrie­ben wor­den sind, sind sie den­noch für den „Normalleser” ver­ständ­lich. Und vor allem sind sie für ein viel brei­te­res Publikum emp­feh­lens­wert. Zu kri­ti­sie­ren ist jedoch die fast aus­schließ­lich euro­zen­tri­sche Weltsicht der Autoren, so wenn unkri­tisch nur von – Gott – (also dem Christen-Gott) die Rede ist und nicht von „einem Gott”, von „Göttern” oder von „Gott” in Anführungszeichen.

Siegfried R. Krebs

Helmut Fink (Hrsg.): Die Fruchtbarkeit der Evolution – Humanismus zwischen Zufall und Notwendigkeit. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern. Band 5. 298 S. m. Abb. kart. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2013. 20,00 Euro. ISBN 978-3-86569-072-2

Das Buch im Denkladen


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