Eurokrise und Austerität - worüber streiten wir? (Teil 1 - Basics)

Von Tobias Fuentes

Nichts ist schwieriger als einen sinnvollen Einstieg in die Krisen-Problematik zu finden, der nicht gleich unnötigen Widerspruch hervorruft. Ich versuch es so einfach, allgemeinverständlich und unverfänglich wie möglich und beginne mal von hinten. Manche Punkte wären sicher noch erläuterungsbedürftig, aber für unseren Zweck soll es ausreichen. Teil 1 behandelt wichtige Grundlagen, die hoffentlich als Orientierung nützen. In Teil 2 geht es um weitere konkrete Streitpunkte bei der Lösung der Eurokrise.
1. Wie finanzieren sich Staaten?
Staaten finanzieren den Anteil, den sie nicht mit ihren Steuereinnahmen decken können, über den sogenannten Kapital-/Finanzmarkt, d.h. über Kredite von Banken und durch Ausgabe von Staatsanleihen an Banken und private Investoren (Anleger über ihre Banken, und etwa Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds). Aber nicht direkt über ihre nationalen Notenbanken (= Zentralbanken), was bei uns extra auf Veranlassung Deutschlands im EU-Recht verankert wurde und gelegentlich beklagt wird. Der Verkauf (= die Ausgabe, Emission) von (befristeten) Staatsanleihen erfolgt sowohl ans In- als auch Ausland, über Angebot und Nachfrage etwa im Bietverfahren. Dabei ergeben sich die vom Staat zu zahlenden Zinsen. Je unwahrscheinlicher die Rückzahlung durch die Staaten wird, umso niedriger die Nachfrage und höher die Zinsen. Ob und wann ein Staat überhaupt bankrottgehen kann, ist eine andere Frage, die uns sicher bald praktisch beschäftigen wird, aber hier dahingestellt sei - denn eigentlich kann ein Staat über seine Zentralbank, je nach gesetzlichen Vorgaben, "Geld drucken" lassen, indem die Zentralbank existierende Staatsanleihen aufkauft (am sog. Sekundärmarkt), also quasi verfrüht anstelle des Staates zahlt.

Je höher die Zinsen, desto unsicherer die Lage und umso schneller können die Zinsen noch höher ausschlagen, so im Falle Griechenlands. Zinsen für lang- und kurzfristige Staatsanleihen variieren teils stark. Griechenland ist langfristig vom Kapitalmarkt weg, aber kurzfristig wird die Ausfallwahrscheinlichkeit mitunter gering gesehen, weil eben EU-Rettungshilfen für die nächsten paar Monate sicher sind. Manche Euro-Krisenländer wie Irland, Spanien, Portugal und Zypern haben die Wahl: hohe Kapitalmarkt-Zinsen oder das Schlüpfen unter den Euro-Rettungsschirm ESM mit seinen Auflagen. Surreal ist es, wenn wie in Spanien und aktuell in Zypern schon den eigenen nationalen Banken der Bankrott droht (etwa wegen uneinbringlicher Forderungen aus vergebenen Immobilienkrediten und Spekulationsgeschäften), zu deren Rettung sich der Staat verpflichtet fühlt (weil sonst angeblich die ganze Wirtschaft zusammenbräche), aber über die sich ja der Staat auch schon selber mitfinanzierte, denn die Banken kauften Staatsanleihen für ihre Kunden und sich selber.
2. Krisenerklärung - warum stiegen die Zinsen für Staatsanleihen der Krisenländer?
Weil die Ausfallwahrscheinlichkeit größer wurde. Warum? Durch die US-Finanzkrise, das Platzen der Immobilienblase, offenbarte sich ein aufgeblähter Finanzmarkt, in den auch europäische Banken verwoben sind, die nun mit Forderungsausfällen zu kämpfen hatten. Danach änderte sich die Risikoeinschätzung des Kapitalmarkts für die Situation in der Eurozone. Der Euro hatte die Zinsen für Staatsanleihen aller Euroländer auf tiefem Niveau angeglichen. Korrespondierend fielen die Zinsen für Unternehmens- und Privatkredite - die EZB legt einen einheitlichen sog. Leitzins fest, zu dem sich Banken Geld bei ihren nationalen Notenbanken (bei uns Bundesbank) leihen können, mittels dessen sie Kredite an den Privatsektor vergeben ... inwiefern Ersparnisse hierfür eine Rolle spielen und ob das überhaupt wichtig ist, ist im übrigen ein heiß umkämpftes Minenfeld, es ist eine der zwei zentralen Fragen unseres bzw. eines funktionierenden Geld- und Wirtschaftssystems (die andere Frage, die aber damit zusammenhängt, ist, ob die Angebots- oder Nachfrageseite die Wirtschaft antreibt, und welche Wirtschaftspolitik man dementsprechend verfolgen muss bzw. es dem Markt überlassen kann). Ausgehend von den für viele Länder plötzlich niedrigen Zinsen verschuldeten sich Staat und der Privatsektor (Unternehmen / Haushalte), sie konsumierten / investierten, trieben Löhne und Preise an, was dort die Wirtschaft zum Boomen brachte, wichtig: die Binnenwirtschaft boomte und einhergehend die Importe. Und wichtig: das geschah über Kapitalströme (der genaue Mechanismus ist unter Angebots- und Nachfragetheoretikern wieder umstritten), insb. floss deutsches Kapital / Ersparnisse in den Süden, während es bei uns für Kredite / Konsum / Investitionen "fehlte". In diesem Zusammenhang ist das sog. Target-Problem relevant.
Plötzlich stiegen die Zinsen. Wichtig: sie stiegen während, genauer: wegen des wirtschaftlichen Wachstums. Warum? Weil es nicht tragfähig war. Warum? Weil es ein nachfrage- und schuldengetriebenes Binnenwachstum war, das die Preise auf Kosten der Exporte antrieb. Abzulesen an der Entwicklung der Leistungsbilanzen (Export minus Import), deren jeweiliger Saldo bekanntlich etwa in Deutschland im Plus wuchs (Leistungsbilanzüberschuss) und in den Krisenländern im Minus (Leistungsbilanzdefizit). Auf Dauer konnte das nicht mit niedrigen Zinsen so weiterlaufen, weil im Notfall die Möglichkeit der sonst üblichen und relativ einfachen Abwertung der nationalen Währung über den Wechselkurs (etwa über die Senkung des Leitzinses oder Ver/käufe von Währungen durch die Notenbank) nicht mehr zur Verfügung stand, denn alle haben nur den Euro. Sowohl für Staat als auch Unternehmen / Haushalte des jeweiligen Landes wurde die Ausfallwahrscheinlichkeit ihrer / neuer Schulden immer höher.

Gründe für den Anstieg der Zinsen sind nicht ins Letzte ergründbar. (Zur "Spekulation" siehe später in Teil 2.) Die Krisenerklärung der Politik ist widersprüchlich und undurchschaubar. Der durch Krisenmaßnahmen plötzliche Schuldenanstieg (in absoluten Zahlen) oder der Verschuldungsgrad an sich (relativ zum BIP) können nicht alleinige Ursache sein. Zwingend kommt das "Geschäftsmodell" des Staates zur Beurteilung der Ausfallwahrscheinlichkeit hinzu, insb. die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, die für den Staat Steuern erwirtschaften. Auch die EU erwähnt die Bedeutung von Ungleichgewichten für die Zinsentwicklung, kann sie aber in keinen konsistenten Zusammenhang bringen. In 2011 beschloss die EU ein Frühwarnsystem "zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte" und will zwischen tragfähigen und schädlichen Ungleichgewichten unterscheiden. Die Auseinanderentwicklung von etwa Deutschland und den Krisenländern sieht man als unschädlich an.

Das von der (Export-)Industrie mitfinanzierte IW Köln bestreitet ebenfalls weitgehend einen entscheidenden Zusammenhang zwischen preislicher Wettbewerbsfähigkeit, der deutschen Lohn- und Preisentwicklung und Ungleichgewichten, während dies für das ifo-Institut und Hans-Werner Sinn - selbstredend auch für linke Ökonomen - die Haupterklärung der Krise ist. Spanien wird als vermeintlicher Beleg für die schwache Relevanz von Preisen diskutiert.
3. Der Weg zurück zum Kapitalmarkt

Was ist das aktuelle Problem der Krisenländer? Ihr Staatssektor ist mehr oder weniger vom Kapitalmarkt getrennt, sie sind also quasi bankrott. In jedem Falle ist das bei Griechenland der Fall - Griechenland ist faktisch bankrott, es wird ausschließlich und auf nicht absehbare Zeit durch Hilfsmaßnahmen und ESM finanziert. Wie kommen die Krisenländer wieder zu annehmbaren Zinsen? Müssen sie ihre Staatsschulden abbauen / die Staatschuldenquote senken? Dazu vorausgehend Wachstum erzeugen? Oder müssen sie erst wettbewerbsfähiger werden, um langfristig eine wie-auch-immer große Staatsschuldenquote halten zu können? Hier beginnt das Phänomen. Auf der einen Seite ist die Politik: sie erweckt den Anschein, dass wir primär ein Staatsschuldenproblem hätten, aber betreibt "krisenverschärfende" Austeritätsmaßnahmen, die das Schuldenproblem (zunächst) vergrößern. Auf der anderen Seite sind die Kritiker / Linken, die primär die unterschiedliche Entwicklung der preislichen Wettbewerbsfähigkeiten brandmarken, aber grundsätzlich Maßnahmen durchsetzen wollen, die die Wettbewerbsschwäche der Krisenländer zementieren würden (ich überspitze). Wie ist das alles aufzulösen? Austerität heißt praktisch: Ausgabenkürzungen (und Steuererhöhungen). Wir richten den Fokus auf Ausgabenkürzungen. Ich hatte es in der Staatsausgaben-Debatte erwähnt, man ist sich im Mainstream, in der kundigen Politik, unter Ökonomen und Linken praktisch einig, dass Ausgabenkürzungen die Wirtschaft kurz- bis sogar mittelfristig einbrechen lassen - jedenfalls wenn Kürzungen groß genug sind und man ohnehin in einem Abschwung ist. Das steht auch nicht im Widerspruch zu den Austrians, die Deflation in jeder Situation gutheißen (ich überspitze wieder).

Unter Politikern mag es zwei Typen geben: einerseits diejenigen, die tatsächlich an eine reine "Staatsschuldenkrise" glauben und denken mit Austerität würden die Finanzmärkte von allein beruhigt, bzw. diejenigen, die kein Problem in preislicher Wettbewerbsschwäche sehen. All solche wundern sich dann, dass es wenig Fortschritte bei Investitionen gibt, die Wirtschaft nicht wächst oder die Zinsen für Staaten nicht sinken. Dazu fordern sie Konjunkturprogramme, die die Austerität "abfedern" oder "begleiten" (was ein Widerspruch in sich ist), und vielleicht noch strukturelle Verbesserungen nach Vorbild unserer Agenda. Dieser Politikertyp ist tragischerweise der häufigere. Andererseits gibt es diejenigen Politiker und Ökonomen, die davon ausgehen, dass sich die preisliche Wettbewerbsungleichheit abschwächen muss / müsste, bevor wieder investiert wird und die Zinsen sinken. Dies geht aber nur über einen vorgeschalteten Wirtschaftseinbruch. Das ist das relevante Szenario, von dem ich nachfolgend ausgehe und dem sich auch Linke stellen müssen. Die Politik nennt die Krise eine "Staatsschuldenkrise", aber erwähnt in Gesetzeswerken sowohl Schulden als auch makroökonomische Ungleichheiten nebeneinander als Krisenursachen. Eine Präzisierung ist nicht bekannt. Es ist anzunehmen, dass man sich scheut der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken und das Erfordernis einer Rezession lieber verschweigt.  Der Weg zu höheren Preise war: Zinsangleichung durch den Euro -> Anstieg der Kredite -> Löhne -> Preise. Ceteris paribus, also alle anderen Umstände als gleich unterstellt, müssen die Krisenländer im Vergleich zu Konkurrenten in ihren Löhnen und Preisen zurückbleiben - entweder sinken ihre Preise oder sie steigen weniger stark als die der Konkurrenten. Eine Preissenkung ist genau das, was am Ende von durchgezogener Austerität steht. Man kann nicht extern über Wechselkurse abwerten, also muss man intern über Löhne und Preise abwerten. Weniger Ausgaben -> schwächere Nachfrage -> Wirtschaft schrumpft -> Löhne geraten unter Druck und sinken -> Preise sinken. Damit wird das Kernproblem gelöst. Zur Wiederholung: das Kernproblem sind nicht die Staatsschulden und nicht das Schrumpfen der Wirtschaft. Das (unvermeidliche) Schrumpfen der Wirtschaft ist ein Zwischenerfolg der Austerität. Wachstum ist Gift in der Situation der Krisenländer. Man bräuchte Exportwachstum und Importschrumpfen, aber das kann man nicht ohne sinkende Löhne und Preise organisieren. Wachsen können die Krisenländer erst wieder, wenn die Talsohle der Rezession erreicht ist und langsam wieder angefangen wird zu investieren, die Bonität des Staates steigt und die Zinsen wieder sinken. Die Abwärtsspirale erreicht dann ihr immanentes Ende (trotz sich zuvor nachfrageseitig selbstverstärkender Abwärtseffekte - die sind hier irrelevant, denn eine Wirtschaft wächst und schrumpft immer "elliptisch" und nie linear). Dann, und erst dann, kann das Spiel auf Wunsch wieder von vorne beginnen: der Staat bekommt Kredit, verschuldet sich schrittweise und treibt über Ausgabenpolitik die Löhne und Preise an, befeuert wieder den Wachstumszyklus, bis zum nächsten Crash. Wachstum, das über Rettungshilfen finanziert würde, lindert die aktuelle Not, aber zementiert die preisliche Wettbewerbsschwäche und kann nur insoweit die Zinsen senken als Rettungsgelder dafür bürgen. Mit diesem Wachstum hätte man nichts gewonnen. Zur Klarstellung: die beschriebene interne Abwertung im nötigen Umfang ist ein leidvoller Weg - noch leidvoller und länger als ein Bankrott und wird daher auch von mir nicht favorisiert. Der Erfolg dieser Austeritätspolitik, falls sie die Bevölkerung bis zum Ende mitmacht, hat massive Begleiterscheinungen: Wachstumseinbruch, Massenarbeitslosigkeit und unliebsame politische Implikationen. Wir sind uns hier einig. Trotzdem wehren sich Linke gegen diese nüchterne Betrachtung mit Händen und Füßen, indem man etwa - getragen von Wunschdenken - Argumentationen und Krisenerklärungen heillos durcheinander wirft.
Weiter geht's voraussichtlich morgen im 2. Teil, mit dem Durchleuchten einiger Missverständnisse, Widersprüche, insb. bezüglich Keynes, und Alternativen zu Austerität.

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