Olav Christopher Jenssen im Fokusraum: Wer die kleine Ausstellung "Estragon" im Sprengel-Museum noch nicht gesehen hat, kann das bis zum 15. Juli nachholen. Ich empfehle den Besuch!
Mit rein abstrakter Kunst habe ich es sonst nicht immer einfach - hier aber fand ich unmittelbaren Zugang, sobald ich den Raum betreten hatte. Mein Atmen veränderte sich, alles wirkt leicht und luftig; wo sich Dichte bildet, wird sie abgefedert; eine ruhige, fast meditative Atmosphäre entsteht. Der Künstler hat den Raum mitgestaltet. "Olav Christopher Jenssen hat ein nahezu choreografisches Verhältnis zum Ausstellungraum. Er ist bekannt dafür, dass er die Räume, in denen er ausstellt, umbaut oder -malt, fast als würde er eine Bühne vorbereiten" (Gertrud Sandqvist).
Es ist also ein kleines Gesamtkunstwerk, was hier zu erleben ist: Linien und Flächen oder auch räumliche Gebilde von großer Schönheit in ihrer ausgewogenen Komposition, mit fein balancierten Farbklängen. Die Bilder haben Titel, die zwar "sprechend" sind, aber nur einen schwer erkennbaren Bezug zu dem jeweiligen Werk haben, wenn überhaupt. Beispiel: "Lack of Memory" - der Sammeltitel meint nicht den Gedächtnisverlust als psychologische Kategorie. "'Mangel an Gedächtnis' ist ein Neubeginn, ohne die kunsthistorische Last, die der Malerei in der postmodernen Debatte der 1980er Jahre so häufig aufgebürdet wurde, ..." (Gertrud Sandqvist). Olav Christopher Jenssen schafft gerne in ganzen Serien (die dann einen Sammeltitel bekommen) und in großen Formaten.
Meistens wird zu einer Ausstellung ein Katalog(buch) produziert, hier ist es umgekehrt: erst das Buch, dann aus Anlass des Erscheinens eine kleine Begleitausstellung. "Estragon" erscheint im Wallstein-Verlag als Band 73 in der Reihe "Kunst der Gegenwart aus Niedersachsen", herausgegeben und gefördert von der Stiftung Niedersachsen.Mit einem Essay der Schwedin Gertrud Sandqvist (geb. 1955). Olav Christopher Jenssen wurde 1954 in Sortland auf den Vesterålen, der Inselgruppe im Norden Norwegens, geboren, lebt aber seit Jahrzehnten in Deutschland, arbeitet in Berlin und Braunschweig, dort als Professor für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. An dem Buch hat der Künstler mitgewirkt. Künstlerbücher sind eine der Spezialitäten von ihm bis hin zu Buchillustrationen.
Buch wie Ausstellung haben nach dem Gewürzkraut den Titel "Estragon" bekommen; warum, darüber darf gerätselt werden.
Es folgen einige Zitate aus dem Buch:
"Olav Christopher Jenssens Gemälde sind vollkommene Kunst über Unvollkommenheit, als schriebe ein Engel einen Traktat über die Menschen", sagte der amerikanische Kunstkritiker Schjeldahl 1992 (zitiert von Sandqvist).
Aus einem Interview: "- Ist es nicht auch eine große Freiheit, unbefriedigt zu bleiben? Eine Kraft, nicht aus allem das Letzte herauszuholen? - Ja, das ist kein Hinweis auf etwas, das nur ich zu wissen glaube. Es stammt ja aus der Wirklichkeit. Ich nehme am Leben teil, und darin gibt es glücklicherweise noch einige unbeantwortete Rätsel." - Olav Christopher Jenssen interessiert sich nicht für Perfektionismus. Hierin unterscheidet er sich zum Beispiel von einer Malerin wie Agnes Martin, die dafür bekannt war, alle Bilder zu zerstören, die sie als nicht optimal für das bezeichnete, was sie sagen wollte. Hierin unterscheidet er sich von der Tradition der abstrakten Moderne, die nach dem Absoluten trachtet. Perfektionismus ist für Jenssen etwas Lebensfeindliches."
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Zitate wie angegeben. Bild: Olav Christopher Jenssen: The Transmontane Painting No. 11, Öl auf Leinwand 195 x 185 cm, Berlin / Lya 2017 © VG Bild-Kunst, Bonn 2018
Weitere Informationen:
https://www.sprengel-museum.de/ausstellungen/olav-christopher-jenssen.php?snr=2
https://www.wallstein-verlag.de/9783835332270-gertrud-sandqvist-olav-christopher-jenssen.html
