Essai 126: Über den Kassandra-Effekt

Wer zu vernünftigem, logischen Denken neigt und die lästige Angewohnheit hat, bei seinen Überlegungen auch langfristige Entwicklungen mit zu berücksichtigen, läuft Gefahr, des Öfteren recht zu haben. Dann hat man ein Problem. Leute, die ständig recht haben und alles (wirklich) besser wissen, gelten als Klugscheißer und die mag niemand. Das führt dazu, dass man sich den Mund fusselig reden kann mit seinen Einwänden, Bedenken, Anmerkungen und Kritiken – niemand wird einem bereitwillig zuhören. Was folgt, nenne ich mal den Kassandra-Effekt. Man warnt vor irgendwelchen negativen Konsequenzen einer bestimmten Handlung, die Leute ignorieren einen und machen den Blödsinn trotzdem und – zack! – tritt genau das ein, wovor man gewarnt hat.

Kassandra hatte in der griechischen Mythologie vom Gott Apollon die Gabe geschenkt bekommen, die Zukunft voraussehen zu können. Der war nämlich in sie verknallt und für so einen Gott sind Pralinen oder Blumen zu weltlich, also muss es gleich die Gabe der Weissagung sein. Da kann man sich natürlich drüber streiten, ob das wirklich eine Gabe ist … ich bin ganz froh, dass ich noch nicht weiß, was genau in meinem Leben passiert. Sonst wäre ja die ganze Überraschung im Eimer. Jedenfalls, bei den alten Griechen galt das als ganz tolles Geschenk. Kassandra wollte jedoch trotzdem nichts von Apollon und in seiner gekränkten Eitelkeit verfluchte er die ursprüngliche Gabe und fügte hinzu, dass niemand Kassandras Weissagungen glauben würde.

Das war vor allem für die Trojaner Mist, denn Kassandra warnte zum Beispiel ihren Bruder Paris davor, die schöne Helena von den Griechen zu entführen. Daraufhin würde es zum Krieg mit den Griechen kommen, sagte sie. Niemand hörte auf sie und es kam, wie es kommen musste. Schließlich tüftelten die Griechen noch die Sache mit dem riesigen Holzpferd aus, um in die von hohen Mauern gesicherte Stadt Troja zu gelangen. Kassandra warnte die Trojaner, das Holzpferd in die Stadt zu holen. Da sitzen die Griechen drin, die zerstören Troja, wenn wir sie reinlassen. Pfft, Quatsch, sagten die anderen, wir machen das jetzt, halt die Klappe, sei nicht immer so pessimistisch. Und wer hatte mal wieder recht? Genau. Die nervige Besserwisserin. Ehrlich gesagt, die Trojaner waren offenbar nicht die hellsten Birnen im Kronleuchter. Wer holt denn einfach so ein riesiges Holzpferd in seine Stadt, wenn die Leute, die einem ans Leder wollen, direkt vor den Stadtmauern hocken? Wer soll denn das Pferd gebaut haben, wenn nicht ebendiese (nicht zu Unrecht) stinkwütenden Gesellen, die nur auf eine Gelegenheit warten, einen platt zu machen?

Ich habe den Eindruck, dass beim Kassandra-Effekt die Leute absichtlich das Gegenteil von dem tun, was man ihnen rät. Einfach so, aus Trotz, Stolz und weil sie keine Lust haben, selbst kurz nachzudenken und einzusehen sowie zuzugeben, dass sie falsch liegen. Das ist doch überhaupt nicht schlimm, wenn man sich irrt und auf dem Holzweg ist. Ich verstehe überhaupt nicht, was das soll, dass man sehenden Auges in sein Verderben rennt, obwohl ein aufmerksamer Mitmensch sogar noch davor warnt. Vielleicht sogar einen schlauen Alternativvorschlag präsentiert. Das ist dem Besserwisser doch wurscht, dass er recht hat, ihm geht es darum, Ungemach zu verhindern. Das Missverständnis zwischen Besserwissern und Nichtbesserwissern liegt darin, dass Letztere überzeugt sind, Erstere würden nur herumklugscheißen, um sich als was Besseres zu fühlen und Letztere zu maßregeln. Dabei ist dem gar nicht so.


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