... es kömmt darauf an, sie zu interpretieren

 

Schon wieder so ein Fehlschluss. Schrieb ich doch noch vor einigen Tagen, dass Merkels Rede zur besten Regierung vernünftig betrachtet nichts anderes sei, als ein Anzeichen von zerrütteter Perzeption. Das dürfte sich aber als falsch erwiesen haben. Ihre Rede und der Beifall ihres parteilichen Anhangs sind nämlich gar nicht irgendwelchen Wahrnehmungsstörungen geschuldet. Wahrnehmung ist, wenn man etwas Schwarzes sieht, vom Auge zum Gehirn der Impuls geht, etwas zu sehen, das unter der Kategorie schwarz verbucht ist und man dann urteilt: Das ist schwarz. Gestörte Wahrnehmung ist, einen Impuls zu bekommen, der fälschlicherweise in der Kategorie orange landet, um selbstsicher zu verkünden, man sehe gerade etwas Oranges.

Nein, diese Leute leiden nicht unter Wahrnehmungsstörungen, sondern eher unter Kontrollzwang. Unter einen Zwang, sich eine Welt zu entwickeln, in der man das, was ungeliebt schwarz ist, einfach ganz dünn mit orangem Lack überspritzt. Mit einer Schicht, die nur aus der Distanz orange schimmert, die bei näherer Betrachtung aber nichts ist, als orangene Kleckse auf schwarzem Grund. Das ist nicht Wahrnehmungsstörung. Das ist eine sonderbare Störung, die Welt wie sie sich real zeigt, nicht annehmen und demgemäß handeln zu wollen.
Es ist ja nicht so, dass diese beste Regierung seit Wiedervereinigung die in einem objektiven Armutsbericht beschriebene Ungleichheit einfach abtut, sie leugnet und als nicht existent darstellt. Sie hat Lack angebracht, hat verdecken lassen, damit die Wahrnehmung, wie man sie sich wünscht, gar nicht erst getrübt wird, gar nicht erst auf die Probe mit der Wirklichkeit gestellt werden muss. Wahrnehmungsstörung wäre es gewesen, wenn die Minister etwas zum Ausbau des Niedriglohnsektors gelesen, dann aber erklärt hätten, es gäbe zwar niedrige Löhne, aber vermehrt träten diese nicht auf. Raffinierter ist es hingegen, wenn man zum Ausbau jenes Sektors, der im wesentlichen die Arbeitslosenstatistiken von Arbeitslosen befreit, erst gar nichts schreibt.
Wer von der Armut weiß, sie aber leugnet, dessen Perzeption dürfte defekt sein. Wer aber so tut, als wisse er davon nichts, der kann zwar als ignorant angesehen werden, mehr aber wohl nicht. Die Welt als Wille und Vorstellung. Diese beste aller Regierungen ist so gut wie all jene Regierungschefs, von denen sie sagt, sie seien verblendet gewesen. Castro oder Gaddafi, Honecker oder Ceauşescu. Auch die sprachen viel von der Erfüllung von Vorgaben und Zielen und erklärten die allgemeine Zufriedenheit zur Doktrin. Inwiefern unterscheidet sich Merkels Regierung von diesen Gestalten?
Die Regierungen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu interpretieren. Zynisch betrachtet könnte man diese Regierung in Schutz nehmen wollen. Man könnte sagen, dass in einem System, in dem das politische Primat zugunsten (finanz-)wirtschaftlicher Bevormundung aufgegeben wurde, nichts anderes übrigbleibt, als sich eine Welt zu zimmern, in der die Politik noch etwas gilt, in der sie von allgemeiner Zufriedenheit und Besserung der Lebensumstände spricht. Autosuggestion ist keine Wahrnehmungsstörung, sondern ein modus vivendi oder modus supervivendi wenn man so will. Man könnte diese Regierung, wie gesagt, in Schutz nehmen wollen und ihre Interpretation der Welt, als letzte Ausflucht ihrer selbst werten. Könnte man. Darf man aber nicht. Denn sie ist der verlängerte Arm der wirtschaftlichen Bevormundung, mit ihr verquickt, von ihr bezahlt. Diese Regierung macht sich ja nichts selbst vor; sie hofft nur genügend Dumme zu finden, denen sie noch was vormachen kann.


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