Es gibt viele Arten zu töten

 

Tritt ein Virus oder eine Grippe in die Welt, monologisiert die Presse, ob wir nun auch gefährdet seien. So wie neulich, als man fragte, ob bei uns möglicherweise auch ein Hurrikan ins Haus stehe. Wie gefährdet sind wir? und Wie kann man verhindern? kommen als Fragen und Artikel zuweilen vor. Sind auch Sie von Kurzarbeit betroffen? Wie gefährdet ist mein Kind? Was tun um Steuern zu vermeiden? Ereilen auch mich höhere Stromkosten? Meist handelt es sich schlicht um Fragen aus der Mittelstandsklasse, um Themen, die dort besonders relevant und alltäglich sind.
Apropos Stromkosten. Letzte Woche erstickten Vater und Kinder in Kohlenmonoxid. Die Familie konnte die Stromrechnung nicht mehr begleichen. Irgendwann stellte man ihnen den Strom ab und um nicht ganz ins Mittelalter zu verfallen, betrieb man ein Notstromaggregat, das giftige Abgase produzierte. Die Medien berichteten von einer sozialen Tragödie, was relativ moderat klingt. Und sie schreiben geschlossen, dass es der Vater war, der die Rechnung nicht beglich, was faktisch richtig sein mag, was aber vermutlich irgendwie die Schuld auf ihn alleine abwälzen soll. Nach dem Geschäftsgebaren des Stromlieferanten fragt man hingegen nicht, denn so ist das am Markt nun mal, wer seinen Vertragspflichten nicht nachkommt, der disqualifiziert sich.

Brecht ist wie die Bibel, man findet bei ihm immer etwas, das so glänzend zum Fall passt, dass man meint, er habe es extra hierfür geschrieben. Nach ihm gäbe es nämlich viele Arten zu töten. "Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen zum Selbstmord treiben, durch Arbeit zu Tode schinden, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staate verboten." Den Strom sperren hat er vergessen, wobei "in eine schlechte Wohnung stecken" das wohl beinhaltet.
Ich habe bis jetzt nirgends Fragen vernommen, die da lauteten, ob uns das auch passieren könnte. Kann mir der Strom auch gesperrt werden? Muss ich auch ersticken? So vermeiden Sie eine Kohlenmonoxidvergiftung! Nichts dergleichen! Hat man auch nur einen einzigen Aufmacher bei einer der Qualitätszeitungen hierzu gelesen? Man geht darüber hinweg. Die Zahlungsschwierigkeiten etwaiger Familien, die Stromsperren, mit denen sie dann leben müssen, sind nicht das Problem jener Klientel, für die gefragt und beraten wird. Nur Die Linke fordert ein Verbot, bei Zahlungsschwierigkeiten den Strom abzuklemmen - was natürlichnatürlich arg unsozial gegenüber ordentlichen Unternehmen ist, die Leistung bieten und dann nicht entlohnt werden sollen. Kommunismus halt ...
Letzte Woche schrieb ich, dass Armut in dieser Postdemokratie nicht vorkommt, sie wird als Thema ausgeblendet. Man spricht manchmal davon, dass es Armut gäbe, präsentiert Zahlen und relativiert. Aber die Armut hat keine Lobby, niemand, der sich politisch an sie heranmacht, um sie Stück für Stück zu lindern und dann zu beiseitigen. Dieser Anschlag auf die Unversehrtheit einer Familie, den sie nun soziale Tragödie nennen, und der Umgang mit diesem Fall in der Öffentlichkeit zeigt abermals deutlich: Themen der Armut sind als Sujet der Berichterstattung und des Feuilletons ausgeschlossen.
Der Vater hätte seine Rechnung doch nur bezahlen sollen - trifft es aber Anleger und Sparer, die nicht das bekommen, was man ihnen versprach, dann wird ein Fass aufgemacht, wie neulich wieder, als man von der Enteignung der Sparer schrieb. Die Enteignung dieser Familie, erst jene vom Strom, dann vom Leben, ist aber nicht das Problem der Mitte.


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