Samia Yusuf Omar ist im Meer ertrunken. Die junge Frau, die für Somalia an den Olympischen Spielen in Peking 2008 teilgenommen hatte, läuft nicht mehr. Sie hatte, wie Tausende andere Afrikaner versucht, mit einem kleinen Boot von Libyen nach Italien zu fliehen und das von Krieg zerstörte Somalia und den Hunger hinter sich zu lassen. Sie versank jetzt in den Wellen des Mittelmeeres.
Gegen die grosse Veronica Campbell-Brown war sie damals gelaufen im Vorlauf von Peking. Und kam zehn Sekunden nach der Siegerin ins 200-Meter-Ziel. Der Brandungsapplaus des Publikums für den Underdog war ihr wichtigster Tag im Leben nach diesen 32,16 Sekunden in Peking. Neben der Eröffnungszeremonie natürlich, als sie lächelnd und strahlend in den Farben Weiss und Blau als damals 17-Jährige ins Stadion einmarschieren durfte. Es war die doppelte Befreiung, als Frau und als Athletin.
Als Frau liess sie mit diesen schnellen Laufschritten die Todesdrohungen hinter sich, die Tritte; Waffen, die als Argumente eingesetzt worden waren, damit sie ihren Sport aufgeben und den Körper verhüllen sollte im Bürgerkrieg, der ihr Land verwüstete. Als Athletin unterbrach ihr Rennen vor aller Welt den bewaffneten Konflikt, die Strassensperren, die blockierten Trainingswege. Samia vergass an diesem Tag für ein paar Augenblicke den toten Vater, der durch eine Kugel getroffen worden war, die sich zwischen die Hauswände verirrt hatte. Sie musste nicht mehr daran denken, wie sie täglich durch die Strassen irrte, um ein paar Früchte zu verkaufen, damit die Familie nicht verhungerte.
Jetzt ist sie tot. Niemandem fiel in London 2012 auf, dass Samia Yusuf Omar nicht dabei war. Im April war sie von Somalia aufgebrochen. Zuerst nach Äthiopien, wo sie erstmals auf einer richtigen Tartanbahn trainierte statt auf der mit Kugeln durchsiebten Arena von Mogadischu. Rat geholt hatte sie sich dort auch, von der ehemaligen Medaillengewinnerin Eshetu Tura. Dann lief sie, zu Fuss. Erst in den Sudan, dann nach Libyen. Den ganzen langen Weg. Immer bedroht von Entführung und Tod.
Es war ihr egal. Wer verzweifelt genug ist, kennt keine Angst mehr. Samia wollte keinen Krieg mehr, keinen Hunger; und laufen wollte sie. In Italien, in der Sicherheit: “Ich will, dass man mir applaudiert, weil ich gewinne”, hatte sie zu Hause in Somalia gesagt, “das ist mir lieber, als wenn sie mir applaudieren, weil ich Hilfe brauche, auch wenn mich dieser Tag in Peking glücklich gemacht hat.”
So stieg die somalische Läuferin, die so viel schlanker war als alle ihre Konkurrentinnen, in Libyen ins Boot. Diese armselige Nussschale, vollkommen ungeeignet für die Seereise. Auf dem Weg in ein besseres Leben. Sie versank mit den anderen Bootsinsassen in den Wellen irgendwo vor Lampedusa. Wie andere Zehntausende von Afrikaner in den vergangenen Jahren vor Lampedusa und im Atlantik vor den Kanarischen Inseln. Die Geschichte von Samia haben wir ihnen erzählt. Die Geschichte der anderen etwa 30.000 afrikanischen Menschen, die auf dem Meeresgrund liegen, können wir Ihnen nicht erzählen. Sie hatten keine Namen.