Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset

 

Ein Armutsbericht.
Den Armutsberichten kann man nur schwerlich trauen. Daher sollten mal die von Armut berichten, die sie kennen. Demgemäß: Ich erhielt eine Weile das, was man umgangssprachlich Hartz IV nennt. Wenn ich darüber schreibe, weiß ich, wovon ich schreibe. Wie sich Armut ausgestaltet, wie sie sich betulich ins Leben schleicht, ist mir bekannt. Welche sozialen Auswirkungen sie zeitigt, kann ich ganz gut wiedergeben.
Die neue Armut ist keine Erfindung des sozialistischen Jetsets, wie es Kanzler Kohl 1986 dem Stern ins Stenoblöckchen diktierte. Ob sie es damals war, kann ich aus der Ferne schwer beurteilen. Heute ist sie es jedenfalls nicht. Sie ist da und sie wirkt. Wirkt auf mannigfaltige Weise, wirkt in jeden Winkel des Alltags hinein, wirkt am Gemüt desjenigen, der Mensch in Armut ist.

Mensch in Armut sagt man vorzugsweise. Man ist nicht arm und man ist kein Armer, man ist in Armut. Das klingt, ich hatte es letztes Jahr schon mal geschrieben, als hätte man eine Wahl gehabt. Ich schrieb damals, dass es jedenfalls sprachlich so klingt, als habe man zwischen Optionen wählen können, denn man könne demnach in Armut genauso leben wie in Miami. In etwas zu leben suggeriert Alternativen gehabt zu haben. Ich sah neulich den zweiten Teil von Bridget Jones im Feiertagsfernsehen. Dort trifft die Hauptdarstellerin auf einer Versammlung britischer Snobs auf eine Anwaltsgattin, die klarmacht, warum es schlecht sei, einem Obdachlosen Geld zu geben. Wegen dem Saufen natürlich; ähnlich dachte ja auch Steinbrück letztens laut nach und die Neuberechnung des Regelsatzes beruhte exakt auf dieser Prämisse. Die ganze Geschichte sei letztlich, so die feine Dame, dass sich diese Menschen dafür entschlossen hätten, arm zu sein und zu bleiben. In Armut leben ist die philologische Wucherung dieses Denkens.
Ich weiß, was es bedeutet, wenig Geld in der Tasche und ebenfalls wenig auf dem Konto zu haben, sich sozial minderwertig zu fühlen, sich begutachtet vorzukommen, die kleinen finanziellen Kalamitäten des Alltages zu stemmen, kleine ungeplante Summen manchmal wie zum Beispiel seinem Kind Kopiergeld in die Schule mitzugeben, mal hier knapsen, mal dort rationieren, zum Monatsende aus der Dose spachteln. Besonders die soziale Stellung, die der deutsche Journalismus so unnachahmlich bösartig verfestigte, indem er Hartz IV zu einem Glücksfall oder wahlweise zu einer Luxushängematte für faules Pack schrieb, hat mir mental zugesetzt. Und nicht das wenige Geld ist das Problem, sondern die brennende Sorge darum, wie es weitergehen soll, wie man je sein überzogenes Konto sanieren, wieder finanziell gesunden könnte, reibt einen auf. Nicht das wenige Geld ist es, sondern das fehlende Geld. Dass da viele aufstecken und nicht mehr können, körperlich ausgelaugt sind, als würden sie schwerer körperlicher Arbeit nachgehen, ist da nur nachvollziehbar.
Man liest immer wieder, dass beispielsweise ein Restaurantbesuch als Hartz IV-Bezieher nicht möglich ist. Das stimmt natürlich nicht. Man geht trotzdem ins Restaurant. Man leistet sich so einen Besuch, auch wenn man ihn sich nicht leisten kann. Derjenige, der nie in dieser Lage war, wird das unvernünftig nennen. Ich, der ich immer Freude an kultureller Teilhabe hatte, gerne aß und noch immer esse, Kinos besuche, Museen betrete, Kultur lebe, konnte nie so einfach Abschied von der Kulturalität nehmen. Also ging ich essen, also fehlte mir das Geld an anderer Stelle, also machte ich mir danach Vorwürfe, mich nicht im Griff zu haben. Wenn kulturelle Teilhabe dazu führt, sich aufgrund seiner geistigen Konstitution Vorwürfe zu machen, dann nenne ich das systematische Gehirnwäsche. Kultur als ausschweifendes Lebensstil? Ich konnte das nie so ganz ablegen. Die öffentliche Meinung erklärte ja, dass man als Langzeitarbeitsloser alles habe, was nötig sei - Luxus aber, beispielsweise das Essengehen, könne nicht von der Allgemeinheit getragen werden, weshalb der Langzeitarbeitslose Verzicht üben müsse. Was aber, wenn kulturelle Teilhabe für manchen Bezieher notwendig und unverzichtbar ist?
Zur Hochzeit des Hartz IV-Hetzens, das ist einige Jahre her, tritt jetzt nur noch phasenweise auf, schlüpften Reporter hin und wieder für einen Monat in den Hartz IV-Bezug. Ihr Resumee war mir vorab immer klar. Nicht üppig, aber man kann davon leben. Sicher! Einen Monat schon. In einem Monat überzieht man sein Konto kaum, bekommt man die gesellschaftliche Stigmatisierung wenig zu spüren. Ich war diesen Typen neidisch, ich hätte auch gerne die Aussicht auf Linderung gehabt binnen Monatsfrist; ich hätte auch sagen wollen, dass ich nur temporär Arbeitslosengeld II bekomme. Ich geriet in Versuchung, mir selbst einzubläuen, dass das alles nur ein großer Selbstversuch ist. Versuchungen sind nicht rar. Was würde man tun, verlöre eine Oma, die vor einem flaniert, unbemerkt ihren Geldbeutel? Ich bin ein ehrlicher Mensch - wenn ich nicht in Sorge lebe. Erst das Fressen, Moral nachher. Man stiehlt nicht - aber ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht zugelangt hätte. Und dann ist da die Versuchung, der man teilweise auch unterliegt, seinen ärmlich Lebensstil als etwas moralisch Sittsames hinzustellen.
In all der Zeit habe ich kein Stellenangebot erhalten. Nie per Post. Nur hin und wieder Einladungen, um über die berufliche Zukunft zu schwatzen. Über Zukunft wurde da nie geredet. Jedenfalls über keine, die mir gefallen hätte. Da bekam ich dann auch jeweils ein Stellenangebot ausgedruckt. Ein Tiefbauunternehmen suchte etwa eine Bürokraft. Ich fuhr zur angegebenen Adresse, wunderte mich, da das Unternehmen in einer Wohnbausiedlung untergebracht schien, fand tatsächlich den Namen am Klingelschild einer Mietskaserne, trat ins Gebäude, kam im dritten Stock an. Dort öffnete mir ein dicker ältlicher Mann im weißen Unterhemd, leicht speckiges Feinripp. Ob ich hier richtig sei, fragte ich. Klar doch, sagte er. Er hieß mich auf ein geblümtes Sofa in einem kitschigen Wohnzimmer setzen. Tat ich. Er setzte sich in den Sessel und guckte in die Glotze. Ich fragte, warum ich in seinem Wohnzimmer sitze, warum nicht in seiner Firma. Er meinte, doch, das sei die Firma - noch. Man baue aus. Und er deutete auf einen Schreibtisch, der verstohlen in der Ecke stand, darauf viel gestappeltes Papier. Sein Sohn, dem die Firma eigentlich gehört, würde bald kommen, ich soll doch bitte so lange warten. So saß ich ungefähr eine Stunde da, er bot mir Getränke an, ich glaube mich erinnern zu können, dass er mir auch etwas zum Essen hinstellen wollte. Der Sohn kam irgendwann doch noch, nahm meine Papiere in Empfang und meinte, er melde sich. Tat er nie, ich hätte auch nicht in seinem Wohnzimmer arbeiten wollen. Stellenangebote. So sehen sie aus, die Stellenangebote von Jobcentern.
Ich habe es erduldet, in einem fremden Wohnzimmer mit Feinripp Konversation zu probieren. Man fühlt sich elend, in eine solche Situation gestossen worden zu sein. Ich will nicht von Entwürdigung sprechen, das ist in diesem Falle ein hohes Wort. Entwürdigend ist eher, dass man sich als Bezieher von Leistungen nicht trauen kann aufzustehen, dass man nicht den berechtigten Vogel zeigen kann, weil man fürchtet, übermorgen fliege eine Sanktion per Post ins Haus. Also sitzt man auf Sofas mit Blümchen-Muster und lächelt, begutachtet gelbliches Weiß auf haariger Körpermasse und hofft nur, man erwache ganz schnell aus diesem Traum. Ich fand mich erst kürzlich wieder in einem Traum in ebenjenem Wohnzimmer. Wahrscheinlich hat mich diese Stunde meines Lebens mehr geprägt als mir lieb sein kann.
Wenn also weitere Armutsdebatten geführt werden, dann werde ich mich künftig als empirischer Experte melden. Tat ich versteckt ja immer. Nun werde ich es offen tun und unter der Überschrift Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset. Und Armutsdebatten werden geführt werden, denn man hat die Absicht, die Armut zu lindern. Nicht wirklich natürlich, nicht für die Betroffenen natürlich. Für all die anderen Menschen soll sie gelindert werden, die von Armut nichts mehr hören wollen. Also debattiert man so lange, bis keiner mehr zuhört, bis man nicht mehr glaubt, dass es etwas wie Armut in diesem Lande gibt. Und dann zeigen sie penetranter denn je auf den Sudan, auf abgemagerte Kinder und belehren die Arbeitslosen, dass es ihnen noch verdammt gut gehe. Armut sieht überall etwas anders aus, aber verdammt nochmal, es bleibt Armut.


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