„Wir geraten dauernd in endlose Diskussionen, wo jeder immer Recht haben will. Am Ende fühlen wir uns genervt und gehen im Streit auseinander. Wir möchten lernen, besser miteinander zu reden.“ Ich erklärte dem Paar, dass ich ihr Anliegen oft höre. Deshalb verwendete ich als Einstieg das Bild eines Eisberges: „Einmal angenommen, Ihre Kommunikation entspricht der Spitze des sprichwörtlichen Eisberges, der zu einem kleinen Teil aus dem Wasser ragt. Das ist der sicht- und hörbare Teil und Sie möchten sich darauf konzentrieren. Was aber könnte der Teil des Eisberges beinhalten, der unter dem Wasserspiegel liegt?“ Nun wurde es still im Raum, zu hören war nur noch das Ticken der Tischuhr. „Ich biete Ihnen eine Vermutung an“, meldete ich mich nach ein paar Atemzügen wieder zurück. Die beiden nickten wortlos, also fuhr ich fort: „Sie sehnen sich nach emotionaler Intimität. Mit anderen Worten glaube ich, dass Sie sich im Alltag oft vermissen. Anstatt sich das einzugestehen, streiten Sie. Kann das sein?“ Nun schauten Sie sich für einen Augenblick an und atmeten hörbar aus. Noch bevor sie oder er etwas sagen konnte, versuchte ich die Nähe, die entstanden war, zu nutzen. Mit sanfter Stimme fragte ich: „Möchten Sie den Satz ‚Ich vermisse dich’ einmal ausprobieren, gerade jetzt?“
Es stellte sich heraus, dass die beiden im hektischen Alltag kaum Zeit füreinander hatten, sich also kaum je wirklich begegneten. Einer der wenigen kurzen Momente sei der Gutenachtkuss. Das Paar war einverstanden, dieses Verhalten näher zu erforschen. Deshalb schlug ich ein Experiment vor. „Können Sie sich vorstellen, einander fünf Minuten lang zu umarmen, ohne sich körperlich anzustrengen; vor dem Gutenachtkuss, sagen wir zweimal pro Woche? Es geht darum, einander Nahe zu sein und sich dabei möglichst zu entspannen. Arme und Hände liegen ruhig auf dem Körper des anderen. Streicheln oder andere sinnlich-erotische Aktivitäten sind nicht vorgesehen. In der nächsten Sitzung sprechen Sie dann miteinander über Ihre Erfahrungen, vorher nicht.“ Es war mir klar, dass eine fünfminütige stille Umarmung eine Herausforderung darstellen kann. Deshalb war ich überrascht, als sich das Paar darauf einigte, den neuen Schritt bis zur nächsten Sitzung ein paar Mal auszuprobieren.
Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. An beide gerichtet hakte ich nach: „Was könnte Sie daran hindern, das Experiment auszuprobieren?“ Nun legten beide ihre Stirn in Falten und schauten mich skeptisch an. „Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihrem inneren Saboteur eine Stimme verleihen. Was müsste diese Stimme Ihnen zuflüstern, damit Sie auf die Umarmung verzichteten.“ Die Frau antwortete umgehend: „Er macht es bloss mir zuliebe! Wenn ich daran denke, dass er mich auf Kommando umarmt, dann löscht es mir ab. Entweder er macht das spontan oder er lässt es.“ Darauf fragte mich der Mann ernst, was er denn tun könnte, sollte seine Frau tatsächlich so reagieren. „Der Anspruch auf Spontaneität kann ein Stolperstein sein“, antwortete ich ihm. „Sagen Sie Ihrer Frau, dass Sie sie der Liebe zuliebe umarmen möchten.“
Etwas provokativ meinte ich zum Schluss noch: „Hat Sie nicht der jahrelange spontane Umgang miteinander in die Beratung geführt? Das hat wohl nicht gereicht. Deshalb wünsche ich Ihnen, dass sich die bewusste Pflege von intimer Nähe entlastend auf Ihre Kommunikation auswirkt.“