Was bisher geschah:
Nach einer, beziehungsweise zwei, aufregenden Wochen in Kalabrien und nachdem Flüchtling Dorothea wieder eingefangen werden konnte, machte sich Familie Schönbeck auf den Weg zum Hafen von Civitavecchia. Sie hatten eine 8-tägige Kreuzfahrt durch das westliche Mittelmeer gebucht. Die Anreise verlief problemlos. Einzig Oma Mathilda war unruhig, schließlich betrat sie das erste Mal seit dem Verschwinden ihres Ehemannes vor 15 Jahren wieder ein Schiff.
Martin rannte zur Toilette
Die Costa Pacifica lief sanft durch die Gewässer des südwestlichen Mittelmeeres. Am nächsten Morgen sollte das Schiff in den Hafen von Valetta einlaufen. Fünf entspannte Tage an Bord lagen bereits hinter Familie Schönbeck. Savona markierte den ersten Halt ihrer Kreuzfahrt. Auf größere Unternehmungen verzichteten Schönbecks. Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch die Altstadt verbummelten die Familienmitglieder die restliche Zeit des Aufenthalts in den Geschäften am Hafen oder machten es sich auf dem Sonnendeck des Schiffs gemütlich.
Barcelona, die zweite Station der Fahrt, war da schon um einiges aufregender – zumindest für Martin. Der schnappte sich seinen Filius – hatte er doch zuvor über sein Reisebüro eine Tour gebucht, die auch den Besuch des Fußballtempels Camp Nou beinhaltete. Es sollte die zweite prägende Fußballerfahrung für Karl werden. Tatsächlich war er von den gigantischen Ausmaßen des Stadions keineswegs auch nur annähernd so begeistert wie Martin. Dieser bekam eine wohlige Gänsehaut, als er auf den Tribünen des Stadions stand und seinen Blick schweifen ließ. Sicher, die Spielstätte war leer, doch es genügte nicht viel Fantasie um sich die knapp 100.000 Fans vom FC Barcelona vorzustellen, wie sie ihr Ballartistenteam zum Sieg peitschten. Martin erinnerte sich, wie er 1999 das Champions League Finale bei seinem Freund Helge geschaut hatte. Bayern München spielte an diesem Abend gegen Manchester United und führte auch bis zur 90. Minute durch ein Tor von Mario Basler mit 1:0. Martins Blase drückte so fürchterlich und da er die Jubelszenen der Münchner entspannt genießen wollte, rannte er kurz vor Beginn der Nachspielzeit noch rasch zur Toilette. Als er völlig erleichtert mit einem frischen Bier zurückkehrte, mit dem er gleich auf den Sieg anstoßen wollte, blickte er in das völlig konstatierte Gesicht seines Kumpels Helge. Dann schaute er zum Fernseher. Unfassbar, die Engländer hatten in der 91. Minute soeben den Ausgleich erzielt und während Martin noch im Raum stand und meinte eine Wiederholung des Tores zu sehen, wurde er rasch eines Besseren belehrt. Das da auf dem Bildschirm war gar nicht Sheringham, der die Pille nach einer Ecke in Oliver Kahns Kasten unterbrachte. Doch die Szenen ähnelten sich verblüffend. Wieder hohe Ecke von links. Bayerns Abwehr bekommt die Nülle nicht aus dem Strafraum und Solskjaer kann den Nachschuss erfolgreich einnetzen. Schiri Collina pfiff die Partie direkt im Anschluss ab. Seitdem hat Martin lieber das mögliche Platzen seiner Blase in Kauf genommen, als sich noch einmal kurz vor Ende des Spiels vom Fernseher weg zu bewegen.
Blonder Mann mit Schnurrbart
Und genau hier unten fand dieses historische Spiel statt, dachte er sich. Wahnsinn. Karl hingegen quengelte und wollte weiter. Gut, der Junge hat ja noch keine Fußballerfahrungen machen können. Das wird schon. Immerhin konnte ihn das Glitzern der vielen riesigen Pokale im Vereinsmuseum begeistern und das Bild von einem blonden Mann mit Schnurrbart. Karl lachte sich scheckig und Martin ebenfalls, denn auf dem Bild war Bernd Schuster im typischen 80er-Look abgebildet. Kaum ein Mann der damals keine Schnorre spazieren trug, so auch Martin.
Der Rest der Familie besuchte indes Gaudis Sagrada Familia, wo Mathilda eine Kerze anzündete. Eigentlich war sie nicht sehr gläubig, aber seit Gustavs Verschwinden hatte sie sich diesen Ritus angewöhnt. Seitdem entfachte sie in einer beliebigen Kirche des jeweiligen Urlaubslandes eine Kerze. So nahe an dem Ort der Katastrophe hatte sie es aber bisher noch nicht geschafft und dann auch noch in diesem Wahrzeichen Barcelonas!
Doro fand es toll, jeden Tag in einem anderen Hafen zu ankern. Hinzu kam, dass ihre Tante Sabine ihr vor dem Urlaub das Buch Equinox von Jörg Juretzka geschenkt hatte. Die Handlung ist auf einem Kreuzfahrtschiff angesiedelt und Borddetektiv Kristof Kryszinski ermittelt in einer absurden Mordserie. Doro machte sich einen Spaß daraus, die Charaktere des Buches mit denen der Wirklichkeit zu vergleichen. Auch wenn es jetzt keine Toten an Bord der Costa Pacifica gab, einige Stereotype ließen sich hier doch finden. Der ältere Herr zum Beispiel, der verschiedenen Frauen des Hof machte oder der Club der reifen Damen, die ständig an Deck kluckten und sich das Maul über die anderen Gäste zerrissen. Herrlich. Und dann jagte sie oft ihren kleinen Bruder durch die Kilometer langen Gänge des riesigen Schiffes und zog ihn mit zur Kinderdisco, wo sie sich wiederum über die Kids lustig machte und Karl erklärte, wer denn hier drinnen die Checker und wer die absoluten Vollpfosten wären. Ja, so eine Kreuzfahrt kann schon richtig spaßig sein.
Mathilda erschrak
Als sie am sechsten Tag um 9:30 Uhr in den Hafen von Valetta einliefen, lag hinter Mathilda eine schlaflose Nacht. Den Sonnenaufgang hatte sie gemeinsam mit Martin an Deck verbrach. Zwischen der kleinen italienischen Insel Pantelleria und Malta war vor 15 Jahren das Schiff von Gustav gesunken. Genau hier müssten seine Gebeine am Meeresgrund ruhen. Die genaue Position wussten sie natürlich nicht, doch beide standen über eine Stunde Arm in Arm an der Reling und blickten hinaus in die dunkle See, während hinter ihnen im Osten die Sonne langsam einen neuen Tag einleitete.
Für den Aufenthalt in Valetta hatte die Familie eine Malta-Highlight-Tour gebucht. Neben der Besichtigung einer der größten Kirchkuppeln weltweit, stand auch eine Stadtrundfahrt in Valetta auf dem Programm. Mathilda erkannte das Baystreet Hotel wieder, in dem sie vor 15 Jahren, nach dem Unglück wohnte und auf Nachricht von Gustav wartete. Die Nähe zum Hafen war dafür ideal und sie damals voller Hoffnungen auf die Rückkehr ihres Ehemanns. Überall in dieser Stadt hingen die Schatten der traurigen Vergangenheit an den Fassaden. Das Herz von Mathilda pochte. Als sie Valetta verließen und nach Floriana, dem Einfallstor von Valetta, fuhren, musste der Bus an einer Ampel, die direkt vor dem Hotel Phoenicia war, halten. Während der Reiseleiter gerade von den hiesigen Besuchen Papstes Johannes Paul des II. berichtete, blickte Mathilda aus dem Fenster und beobachtete einen gut gekleideten älteren Herrn, der direkt neben dem Hoteleingang auf seiner Martin Committee spielte. Mathilda erschrak, als hätte sie einen Geist gesehen. Die Pose! Dieses Instrument! All das war ihr doch sehr vertraut. Doch der Mann, der die Trompete hielt, war deutlich hagerer als der, der in ihrer Erinnerung lebte. Doch die Haltung und diese vertrauten Züge im Gesicht. Nein, das konnte nicht sein. Das war vollkommen und gänzlich unmöglich. Oder doch? Mathilda schnappte nach Luft und schrie plötzlich so laut auf, dass die anderen Teilnehmer des Ausfluges im Reisebus zusammenzuckten.
»Gustav? Guuuustaaaaav!«
Fortsetzung folgt