Was bisher geschah:
Familie Schönbeck genoss ihren Urlaub in Kalabrien. Hatten sie sich ja auch verdient, denn der Beginn war für alle doch recht aufregend. Bevor die Ferien auf einem Kreuzfahrtschiff weitergehen würden, kam es zum Streit mit Tochter Dorothea. Sie hinterließ einen Abschiedsbrief. Natürlich wollte sie nicht für immer verschwinden, doch einen Denkzettel hätten ihre Eltern schon verdient, meinte sie. Alleine wanderte sie am Strand des Tyrrhenischen Meers entlang, machte Rast, schlief ein und wurde durch eine Berührung geweckt. Zwei abgerissene Jungs wollten sie gerade um ihr Hab und Gut erleichtern.
»Wir werden sie schon finden«
»Was Du auch ständig das Mädchen reizen musst«, kam vorwurfsvoll von Sabine.
»Ja genau! Am besten wir lassen ihr alles durchgehen und irgendwie wird es dann schon. Unkraut wächst ja auch von alleine«, kommentierte Martin bissig.
»Hört damit auf! Das bringt jetzt überhaupt gar nichts«, mischte sich Mathilda ein.
»Wo ist Doro?«, fragte Karl.
»Deine Schwester ist eingeschnappt und spielt mit uns verstecken«, erklärte Sabine ihrem Sohn.
»Hast Du schon Antwort von Deiner Schwester erhalten, ob sich Doro bei ihr gemeldet hat?«, fragte Martin Sabine.
»Nein, keine Antwort. Ihr Handy ist aus, aber ich hab ihr eine SMS geschrieben.«
»Okay. Passt auf«, setzte Martin an. »So weit kann sie ja nicht gekommen sein. Mutter, du bleibst bitte mit Karl hier auf dem Zimmer für den Fall, das sie von alleine wieder auftaucht. Sabine und ich gehen runter zum Strand. Wir werden sie schon finden.«
»Ich will auch mitspielen!«, protestierte Karl.
»Aber wir beide spielen doch mit! Wir durchsuchen das Hotel und sind dann da, falls Doro aufgibt, weil sie nicht gefunden wird«, erklärte Mathilda und Karlchen nickte eifrig mit dem Kopf.
Auf dem fünfminütigen Weg zum Strand griff Sabine nach Martins Hand.
»Tut mir leid, dass ich eben so ätzend war.«
»Braucht es Dir nicht, Schatz. Ich bin manchmal vielleicht wirklich ein klein wenig zu stiesig unserer Tochter gegenüber, doch ich will doch nur das Beste für sie.«
»Ich doch auch, aber schau mal, sie ist jetzt in einer schwierigen Phase, wo sie sich von ihren Eltern emanzipieren will. Es liegt an uns, ob sie uns als Freunde oder Gegner begreift und bei Doro mach ich mir eigentlich keine Sorgen. Da ist jetzt gerade viel rebellisches Verhalten dabei, aber ich denke, dass sie so gar nicht sein will. Verdammt Martin, ich mach mir Sorgen um unsere Tochter. Nicht das ihr irgendwas passiert.«
»Keine Bange, wir sind doch hier in einer beliebten Ferienregion, was soll da schon passieren?«
Martin war krank vor Sorge
Sie erreichten den mit Kieselsteinen durchsetzten Sandstrand von Zambrone. Die Stimmung war ausgelassen und die Menschen genossen ihren Urlaub. Lagen in der Sonne, lasen Bücher oder spielten mit Frisbees am Wasser. Doch für Martin und Sabine war diese Idylle trügerisch und sie fühlten sich auf einmal nicht mehr zugehörig. Das Verschwinden der Tochter hatte sie aus der Tiefenentspannung des Urlaubs herauskatapultiert.
»Und jetzt?«, fragte Sabine ihren Mann.
»Ich schlage vor, Du gehst nördlich, Richtung Briatico und ich südlich in Richtung Parghelia. Dein Handy hast Du ja bei. Ruf mich an, wenn Du sie gefunden hast.«
»Ja, oder Du mich, wenn die Kleine Dir über den Weg läuft«, sagte Sabine gequält und Martin merkte wie aufgewühlt seine Frau gerade war. Er nahm sie in den Arm und verabschiedete sie mit einem Kuss auf die Wange.
Alleine mit seinen Gedanken, merkte Martin erst wie krank vor Sorge er über das Verschwinden seiner Tochter wirklich war. Doch vor Sabine musste er stark bleiben, um ihr Halt in dieser Situation bieten zu können. Er erinnerte sich an einen Urlaub in Andalusien vor etlichen Jahren. Karl war noch nicht auf der Welt und Dorothea etwa in dem Alter, in dem jetzt ihr Bruder ist. Sie wohnten im Rincon Andaluz, einem wunderschönen Hotel bei Marbella. Hätte Martin vorher geahnt, wie weit es von dort bis nach Granada wäre, er hätte sich doch lieber für eine Appartementsiedlung oder ein Hotel in Malaga entschieden. Der Ausflug nach Granada war dann auch das Highlight ihres Urlaubs gewesen. Diese sagenhafte Stadt in der Vaga de Granada, wo die beiden Flüsse Darro und Genil zusammenkommen, übte eine starke Faszination auf ihn aus. Sabine erklärte ihm die maurischen und gotischen Bauten, die der Besucher hier bewundern kann. Und dann natürlich der Besuch der Alhambra! Diese üppigen Gärten und die opulenten Gebäude mit ihren reichhaltigen Verzierungen! Doch offenbar war er davon zu sehr abgelenkt, denn plötzlich bemerkte er das Fehlen von Dorothea. Sabine und er hasteten durch die gesamte Burg und konnten sie nirgends finden. Doch die Kleine war für ihre sieben Jahre bereits sehr clever und wartete natürlich gewissenhaft am Informationshäusschen. Als Martin sie erblickte, wie sie da alleine auf einer Bank saß und die Beine baumeln ließ, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen.
Wie ein wilder Stier
Das war vor sieben Jahren und sie hatten Doro verloren, weil sie zu sehr von den Wasserspielen der Springbrunnen in der Alhambra abgelenkt war. Dieses Mal hat sie sich nicht verlaufen, sondern ist freiwillig verschwunden. Dieses Wissen ließ seinen Margen krampfen.
Nach dreistündiger Suche und kurz vor Parghelia drehte Martin ab. Das würde zu nichts führen, und wenn er wieder zurück im Hotel wäre, würde er die Polizei verständigen. Der Strand war auf seinem Rückweg schon deutlich geleert. So leer, wie er sich jetzt fühlte.
Auf Höhe des Hotels Santa Lucia erblickte er etwas, das seinen Adrenalinpegel nach oben schnellen ließ: In etwa 100 Meter Entfernung, etwas abseits gelegen an einer Steinwand, sah er wie eine Person von zwei weiteren in die Enge getrieben wurde. Und genau diese Person hatte blonde Haare und neben ihr lag ein weinroter Rucksack. Das war Doro! Wie ein wilder Stier nahm Martin jetzt Tempo auf. So schnell war er seit deinen Leichtathletik-Tagen an der Uni nicht mehr unterwegs. Der Sand unter seinen Füßen spritzte nach hinten weg. Gleich würde er bei seiner Tochter sein, noch 30 Meter vielleicht. Er fing an zu schreien.
»DORO! LASST EURE VERDAMMTEN DRECKSPFOTEN VON MEINER TOCHTER!«
Die beiden zerlumpt wirkenden Figuren blickten auf und ließen sofort von Dorothea ab. Einem wild gewordenen Vater sich in den Weg zu stellen, dessen Tochter man gerade ausrauben wollte, nein, das würde nichts bringen. Die beiden sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und nahmen reiß aus. Einen Augenblick später traf Martin ein, rannte ihnen noch hinterher und konnte immerhin einem der beiden noch in die Hacken treten. Bevor er sich nun aber über ihn hermachen konnte, rappelte sich dieser nach einem Überschlag wieder auf und war außer Reichweite. Völlig außer Atem lief Martin zu seiner Tochter rüber, die ihm direkt in die Arme fiel.
»Es tut mir leid Papa, so unendlich leid«, sagte sie und fing an heftig zu schluchzen.
»Hey Doro, ist schon okay. Geht es Dir gut?«
»Ja, Du warst rechtzeitig da«, antworte sie und hatte kaum Luft zum sprechen, so sehr überkam sie die Tränenflut.
»Na dann wollen wir mal Deine Mutter anrufen und ihr mitteilen, dass die kleine Ausreißerin wieder bei ihrem Vati ist.«
Dorothea sah ihrem Vater in die Augen und zwischen all den dicken Tränen kam ein gekniffenes aber überglückliches Lächeln zum Vorschein.
Fortsetzung folgt