Entscheidung in der Sierra Chica, Hühnergeier


Zum siebten Teil
Am späten Vormittag des folgenden Tages rumpelte Monsieur Coq auf seinem Planwagen durch ein langgezogenes, karg bewachsenes Tal am Ostrand der Sierra Chica. Sancho saß bei dem Händler auf dem Kutschbock, während sein Klapperhase in gemütlichem Tempo neben dem Fuhrwerk her hoppelte. Sie hatten schon früh am Morgen ihr Camp abgebrochen und hofften, im Laufe des Nachmittags den Ort San Fernando zu erreichen.
Señor Coq, erlauben Sie mir eine Frage?“, begann Sancho, der auf einem Strohhalm kaute: „Was hat es mit der Aufschrift -Erfinder- auf sich?“
„Ah, Erfinder. Isch bin eine Erfinder.“, antwortete Coq au Vin mit einem schelmischen Blick auf Sancho, nachdem er den Staub von seiner Brille gewischt hatte.
„Wenn isch so durch die Sierra Chica reise, 'abe isch oft sehr viel Zeit und da geht mir die eine oder andere Idee durch meine Kopf.“, sagte er und tippte sich zur Bestätigung an die Melone.
„Und was haben sie denn so alles erfunden?“, wollte Sancho wissen.
„Zum Beispiel eine Bohnenrevolver, mit die isch um die Ecke zielen kann. Am Knick von die Lauf und vorne ist eine Spiegel. So kann isch in Deckung bleiben und meine Ziel mit die Spiegel anvisieren. 'at aber nischt funktioniert.“
„Klingt recht nützlich, möchte ich meinen.“, sagte Sancho. „Was ist schief gegangen?“
Coq antwortete: „Die Bohnen kommen nischt um die Knick von die Revolver, sondern bleiben stecken. Des'alb 'habe isch die Idee fürs Erste verworfen. Aber seht 'ier.“
Er zog die Waffe, die er bei sich trug.
„Auch eine Erfindung von mir und funktioniert ausgezeischnet.“
Sancho staunte nicht schlecht, als er die Waffe sah. Der Revolver hatte zwei Trommelmagazine für jeweils sechs Bohnen und außerdem zwei Läufe.
Der Händler fuhr fort: „Isch 'abe 'ier aus zwei Bohnenrevolvern eine gemacht. So muss isch nur 'alb so oft nachladen. Das ist sehr praktisch, wenn man, wie isch, alleine reist. Wollen Sie auch einmal 'alten?“
Mit diesen Worten reichte er Sancho den doppelläufigen Revolver. Dieser betrachtete die hervorragende Arbeit bewundernd von allen Seiten, zielte einmal und war überrascht, wie gut die Waffe in seinem Flügel lag. Dann gab er, voll des Lobes, Monsieur Coq den Bohnenrevolver zurück.
„Sancho, Sie würden erst staunen, wenn Sie sehen, was isch 'inten auf die Ladefläsche 'abe.“ Dabei deutete er mit einem Flügel über die Schulter nach hinten.
„Isch nenne meine neueste Erfindung A.R.M.G.! Automatische Rotationsmaisgewehr. Wird mit Wasser gekühlt und verschießt in schnelle Folge sehr zielsischer Maisschrot, wenn man kurbelt. Großartige Sache.“
„Donnerwetter, das Ding möchte ich gerne einmal sehen.“, sagte Sancho, während er seine Wasserflasche aufschraubte, um einen kräftigen Schluck zu nehmen. „Sowas, schon wieder leer. Señor Coq, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich schnell meine Flasche nachfülle? Da drüben, hinter dem Hügel gibt es einen Bach. Vielleicht haben wir Glück und er führt noch Wasser. Wenn Sie möchten, nehme ich ihre Flasche auch mit.“
„Liebend gerne.“, sagte der Händler und reichte Sancho seine ebenfalls leere Wasserflasche. „Isch werde schon ein paar Minuten alleine zurescht kommen.“
Sancho nahm die beiden Flaschen, sprang vom Kutschbock und stieg in den Sattel seines Klapperhasen. Dann ritt er den Hügelkamm hinauf und war schon bald hinter der Kuppe verschwunden.
Währenddessen fuhr Monsieur Coq mit seinem Planwagen weiter die Talsohle entlang. Er war noch nicht weit gekommen, als plötzlich zwei Gänsegeier aus einem Gebüsch sprangen und den Wagen anhielten. Die beiden Wegelagerer hatten zweifellos schon bessere Tage gesehen. Beide sahen arg zerrupft und hungrig aus. Sie waren schäbig gewandet und hatten jede Menge Löcher und kahle Stellen in ihrem Federkleid. Sie fuchtelten mit ihren rostigen Revolvern und der eine krächzte schrill:
„Her mit der Kohle, aber ein bisschen pronto. Das ist ein Überfall.“
„Isch sehe, dass dies eine Überfall ist, meine 'erren.“, sagte Monsieur Coq in aller Seelenruhe. „Doch, so leid es mir tut: Isch 'abe keine Geld bei mir.“
Natürlich hatte er jede Menge Geld bei sich, doch das war sicher im Planwagen versteckt. Coq au Vin wollte aber Zeit gewinnen und hoffte, dass Sancho bald zurückkehren würde.
„Kein Geld? Wer's glaubt wird selig.“
„Warum redet der alberne Blödhahn so komisch? Hat der einen Sprachfehler?“ fragte der andere Geier.
„Isch komme aus Frankreisch, da sprischt man so.“, antwortete der Händler.
„Da steht Spi..., Spri..., was zum Teufel steht denn da auf dem Wagen? Ist das was Gefährliches?
Der erste Geier kam seinem begriffsstutzigen Kollegen zu Hilfe. Er hüpfte um den Wagen, kniff die Augen zusammmen und buchstabierte mühsam die Aufschrift: Er-le-se-ne Spi-ri-tu-osen.
„Heiliger Geier, der beschränkte Dummgockel hat Schnaps auf seiner Karre.“, schrie er laut und flatterte aufgeregt um Monsieur Coqs Gefährt. Dann schrie er ihn an: „Her mit dem Schnaps, Du blödes Huhn! Ich will den Schnaps!“
„Ja, her mit den Spi..., den Spriti..., verdammt, dem Schnaps.“, echote der zweite Geier und schlug hektisch mit seinen räudigen, schmutziggrauen Flügeln, dass die Daunen in alle Richtungen davonstoben.
„Schön, schön. Ihr wollt Schnaps, also bekommt Ihr Schnaps.“, sagte Monsieur Coq und stieg betont langsam und immer wieder aus den Augenwinkeln in Richtung Hügelkamm spähend vom Kutschbock seines Planwagens.
„Schnaps, Schnaps, Schnaps. Geht das nicht schneller?“, krähte der Anführer der beiden Banditen aufgeregt und voller Gier.
„Eine alte 'ahn ist keine 'asenexpress, wie eine geflügelte Sprischwort bei uns sagt.“, antwortete Coq au Vin und schlurfte in aller Seelenruhe, verfolgt von den gierigen Blicken der beiden Hühnergeier, um den Wagen herum.
In diesem Moment kam Sancho, beladen mit frisch aufgefüllten Wasserflaschen, über den Gipfel des Hügels geritten. Als er die beiden Ganoven erblickte, zog er sofort seinen Bohnenrevolver und ließ seinen Klapperhasen in vollem Tempo den felsigen Abhang hinunter hoppeln. Am Fuhrwerk angekommen, fackelte er nicht lange und feuerte ein paar blaue Bohnen auf den ihm am nächsten stehenden Geier. Volltreffer! Der beschädigte Greifvogel kreischte vor Überraschung und Schmerz laut auf und raste schreiend und humpelnd davon. Der andere Geier war sich zuerst nicht sicher, was er tun sollte - doch da hatte Monsieur Coq schon mit einer schnellen Bewegung seinen selbst konstruierten Spezialrevolver gezogen. Der verunsicherte Hühnergeier, der es nicht auf eine Schießerei ankommen lassen wollte, ließ unversehens die Pistole fallen und eilte seinem Partner unter wüsten Beschimpfungen und mit aufgeplusterten Gefieder hinterher. Coq schoss noch sicherheitshalber ein paar Bohnen in die Luft, aber da waren die beiden Halunken schon längst über alle Berge verschwunden.
Sancho, Sancho, Sancho, Sie sind eine rischtige 'eld. Was soll isch nur sagen? Schon wieder 'aben Sie misch gerettet. Langsam wird meine kleine Pechsträhne rischtig teuer für misch.“, sagte Monsieur Coq, verschmitzt grinsend und mit den Augen zwinkernd.
Sancho antwortete, noch ganz überrascht von seinem eigenen Heldenmut, den er sich bis dahin gar nicht zugetraut hätte: „Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Señor. Mag sein, dass ich sehr bald Ihren Erfindungsgeist dringend brauchen werde.“
„Stets zu Diensten.“, verbeugte sich Coq au Vin und lüpfte dabei höflich seine Melone. Dann hievte er sich wieder auf seinen Wagen und nahm die Zügel.
„Und nun wollen wir zusehen, dass wir endlisch wohlbe'alten nach Saint Fernando kommen.“
Der nächste Teil erscheint am Freitag.

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