Engelzeit

Engelzeit

Kürzlich hatte ich das Vergnügen, einer speziellen Unterhaltung zu lauschen. Als ich in der Kantine des Sanatoriums auf Armin wartete, setzten sich zwei ältere Männer an meinen Tisch. Beide taten so, als würde ich nicht existieren.

„Auf meiner rechten Schulter sitzt ein Engel, der aufschreibt was ich Gutes tue und auf meiner linken sitzt ein Engel, der meine bösen Taten notiert“, sagte der eine. Er hatte eine Glatze und seine langen Nackenhaare zu einem Zopf gebunden.

„Ja, manchmal spüre ich sie auch“, meinte sein Gegenüber, ein Mann mit einer gestrickten Wollkappe und Bart. „Ich frage mich dann jeweils, ob Engel zu den Vögeln oder den Menschen gehören.“

„Engel sind eindeutig Vogelmenschen“, meinte der mit dem Zopf. „Aber sie leben in einer anderen Welt.“

„Wieso können wir sie dann spüren und manchmal auch sehen?“

„Sie haben ein Fenster zu unserer Welt, durch das sie zu uns kommen. Aber du solltest nicht von uns beiden auf andere Menschen schließen. Die meisten haben verlernt, Engel zu spüren und nur ganz wenige können sie auch sehen.“

„Dann sind wir etwas Besonderes?“

„Jeder Mensch ist besonders. Aber wir leben an einem besonderen Ort, das macht den Unterschied.“

„Vielleicht kommen die Engel nur hierher“, meinte der Mann mit der Kappe.

„Das glaube ich nicht“, mischte ich mich da ein. „Auch draußen hat es Engel. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Auch jetzt, in dieser angeblich so heiligen Zeit. Doch die Menschen können sie nicht mehr wahrnehmen. Fernseher und Handys haben Engel ersetzt. Stress verdeckt die Sicht auf die feinen Strukturen und Geld ist nicht nur zum Götzen geworden, den viele anbeten, es ist auch eine Art Engelsersatz.“

Hatte ich das wirklich gesagt? Hatte ich das wirklich sagen wollen? Oder stand ich unter dem Einfluss dieses besonderen Ortes?

Die beiden schienen erst jetzt meine Anwesenheit zu bemerken. Der mit dem Zopf schaute mich verblüfft an:

„Du kommst von draußen?“

„Ja, woher den sonst? Wir alle kommen von draußen.“

Der Bärtige kicherte und schob sich seine Kappe zurecht.

„Wir beide nicht. Wir waren schon immer hier. Wir gehören zu den Einheimischen.“

„Ja, wir sind hier geboren und werden hier sterben“, ergänzte der Mann mit dem Zopf.

Die beiden mussten schon sehr lange hier sein, erkannte ich. Ob Armin auch so werden würde, wenn er hier nicht mehr herauskam. Wo war er überhaupt? Ich schaute auf die Uhr. Es war immer noch fünf vor zwölf, stellte ich erstaunt fest.

„Es gibt hier keine Zeit“, sagte der Mann mit der Kappe und grinste.

„Zeit ist draußen“, ergänzte der andere.

Eigentlich kein schlechter Ort, dachte ich. Ohne Zeit aber dafür voller Engel. Manchmal wünschte ich, an einem solchen Ort geboren zu sein und dort auch sterben zu können.

„Deine Gedanken sind dunkel“, ertönte in diesem Moment eine Stimme an meiner Seite. Es war Armin. Er hatte sich unbemerkt zu uns gesellt.

„Es liegt an der Zeit draußen“, entgegnete ich. „Vor Weihnachten drehen viele Menschen im Rotbereich. Einsame merken plötzlich, dass sie einsam sind, Gestresste rennen Geschenken nach und nicht wenige wollen unbedingt noch erledigen, was sie das ganze Jahr vor sich hergeschoben haben.“

„Dann bleib doch einfach hier.“

Die beiden anderen Männer saßen nicht mehr an unserem Tisch, stellte ich erstaunt fest. Hatte ich nur von ihnen geträumt?

„Glaubst du an Engel?“, fragte Armin.

„Ja…ich meine nein…,du weißt ja, ich bin Agnostiker. Ob Engel existieren, wissen wir schlicht und einfach nicht.“

„Aber du träumst doch ab und zu von Engeln?“

„Ja, das kommt vor.“

„Dann existieren sie auch für dich.“

Eine wunderschöne Traumzeit! Euer Traumperlentaucher

Bild: Ein besonderer Vogel interessiert sich für meine Meisenknödel.



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