Ende der Piraten-Naivität

Von Stefan Sasse
Christoph Lauer, Abgeordneter der Piraten im Berliner Landtag, war bei Maybritt Illner. Thema waren irgendwie mal wieder die Staatsschulden; Neues brachte die Sendung hier nicht - bis auf die völlige Dekonstruktion Lauers. Man hatte ja noch das Video im Kopf, wo die Piratenfraktion ihre Gegner im Landtag außeinander nahm, als es um die Privatisierungen ging, brillant und witzig. Gestern demonstrierte Lauer auf eindeutige und endgültige Weise die Grenzen der Naivität der Piratenpartei. Sein Auftritt bei Illner war eine totale Dekonstruktion. Bisher war das "wir haben keine Ahnung und geben deswegen erst mal keine Antwort"-Mem der Piratenpartei ja nett und neu und aufregend. Wow, keine Worthülsen, ein klares "Wir müssen uns mal schlau machen". Das hat vielen imponiert. Was Lauer bei Illner abgeliefert hat dürfte Viele einfach nur entsetzen. Denn Lauer schaffte es, von der "ich habe keine Ahnung"-Schiene direkt in die Lächerlichkeit zu springen.
Das fing schon damit an, dass er auf offenstlichen Falschaussagen beharrte, als er seine "Wir Piraten sind anders als ihr"-Karte gegenüber Kurt Beck deutlich überreizte. Lauer schien in dem Moment wenig bedacht zu haben, dass er einem gestandenen Politprofi gegenüber saß. Als er den Unterschied zwischen "politisch nicht möglich" und "rechtlich nicht möglich" partout nicht einsehen musste oder gelangweilt-arrogant erklärte, dass er Beck nicht nicht richtig verstanden habe wirkte er wie ein kleines Kind, das von Papa gemaßregelt wird - und das auch noch zu Recht. Auch inhaltlich waren seine Aussagen unter aller Kanone. Schlimmer als jetzt könne es in Deutschland nicht mehr werden, schuldenmäßig, befand er, um sofort erklärt zu bekommen, dass es "im europäischen Ausland" bereits sehr wohl schlimmer gekommen sei - worauf er ein "Ah, Griechenland und so" antwortete. Genausogut hätte er ein Schild "Piep, Piep, ich habe keine Ahnung" vor sich aufstellen lassen können. 
Doch wesentlich schlimmer als das ist etwas ganz Anderes: Lauer bestätigte in der Illner-Sendung meine ursprüngliche Befürchtung gegenüber den basisdemokratischen Programmfindungsansätzen der Piraten. Ich zitiere mich selbst
Ein zweites Problem betrifft die Beeinflussung der Partei bei Themen, die Spezialwissen erfordern - Stichwort Eurorettung. Die Schwarmintelligenz, die im Reputationsnetzwerk die besten Experten promoted und auf diese Art und Weise zur besten Lösung kommt ist natürlich der Idealfall, aber eine Beeinflussung der Partei ist hier sogar fast noch einfacher möglich als bei anderen Parteien: wenn ohnehin niemand die Thematik wirklich versteht und alle Entscheidungen über diese Netzwerke laufen, so müsste es für einen versierten Lobbyisten ein leichtes sein, seine Spezialmeinung so zu fördern, dass er den Stein ins Rollen bringt. So oder so macht die Informationslücke zwischen den Experten und dem Rest der Basis es extrem schwierig, eine echte Diskussion und Reflexion zu ermöglichen. In der Praxis werden vermutlich einige wenige diese Diskussion dominieren, so dass eine Beeinflussung hier nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern auch sehr wahrscheinlich ist. 
Und genau das passierte live vor aller Augen bei Illner. Die Partei hat keine offizielle Linie zu der gesamten Euro- und Staatsschuldenthematik. Trotzdem sitzt Lauer in einer Talkshow zum Thema. Er hat keinen blassen Schimmer, hört sich aber einfach mal an, was die anderen da zu sagen haben, um aus dem Bauch heraus mal dem Einen, mal dem Anderen zuzustimmen, je nachdem, "was sich gut/logisch anhört" (eine öfter gefallene Formulierung). Jetzt ergeben sich zwei Alternativen: entweder, das war Lauers Meinungsfindung als Privatmann. In dem Fall hat er aber bei Illner nichts als Vertreter der Partei zu suchen. Oder aber er sondiert hier quasi stellvertretend für die Partei mit und gibt seine Meinungen und Informationen nachher über die Liquid-Democracy-Kanäle wieder in die Partei (erneutes Selbstzitat: Und drittens wird bei einer zunehmenden Professionalisierung der Partei, die bei weiteren Wahlerfolgen unumgänglich ist, die Informationslücke zwischen Funktionären und Amtsträgern auf der einen und der Basis auf der anderen Seite deutlich wachsen.
So oder so haben die Piraten damit ein Problem. Solange sie keine Meinung haben, können sie sich wahlweise enthalten oder nach einer zwangsweise zu kurzen Sondierung der Lage aus dem Bauch heraus abstimmen, vermutlich verbunden mit irgendeiner Art von Mitgliedernetscheid per Liquid Democracy. Oder aber sie bilden Expertengruppen, die sich intensiv mit den Themen beschäftigen und vergleichsweise qualifizierte Meinungen haben - das aber konterkariert direkt das hochgelobte direktdemokratische Modell. Das lässt sich nur erhalten, wenn man den ersten Weg geht, aber der macht die Piraten zu einer wild card im Parteiensystem, völlig unberechenbar und als parlamentarische Kraft überflüssig wie ein Kropf. Der zweite Weg, eine Professionalisierung in der parlamentarischen Arbeit, würde viele der Piraten-Ideale konterkarieren oder sich zumindest mit ihnen reiben. Eine hohe Transparenz kann und muss hier angestrebt werden und kann einiges retten, aber sie ändert nichts am grundlegenden Problem. Meinungen zu komplexen, bisher unbekannten Themen - die in der Außenpolitik etwa noch zuhauf auf eine eventuell im Bundestag 2013 vertretene Piratenpartei zukommen werden - werden irgendwie gebildet. Entweder, weil irgendwelche Stimmen in der internen Debatte meinungsbildend wirken, oder weil sich die Partei entsprechend professionalisiert. Eines aber ist klar: die bisherige Naivität lässt sich nicht weiter aufrecht erhalten. Das geradezu peinlich schmerzhaft zu offenbaren war Lauers bleibender Verdienst.

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