Emanuel Ringelblum ✡ Begründer des Archivs ‘Oneg Shabbat’

Ohne die geduldige und akribische Arbeit von Emanuel Ringelblum und seinen Helfern wüssten wir heute weitaus weniger über das Leben im Warschauer Ghetto, in der Zeit der grausamen Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Doch Emanuel Ringelblum Emanuel Ringelblumnur mit diesem äußerst wertvollen Archiv in Verbindung zu bringen, hieße ihn nicht verstanden zu haben, denn sein wissenschaftliches Arbeiten zum Thema der Juden in Polen hat schon weitaus früher begonnen und war auch am Anfang von anderen Intentionen geleitet. In der heutigen westlichen Ukraine, an der damaligen westlichen Grenze zu Österreich wurde er am 12. November 1900 in Buczacz geboren, in Nowy Sącz verbrachte er den größten Teil seiner Kindheit und Jugend, wo er auch die Schule abschloss, um dann nach Warschau zu gehen und dort zu studieren. An der Philosophischen Fakultät der Warschauer Universität promovierte er 1927 mit der Dissertation ‚Die Juden in Warschau von den Anfängen bis zum Jahr 1527’. Emanuel Ringelblum war es wichtig, den Einfluss jüdischen Lebens auf die polnische Gesellschaft aufzuzeigen und die damit verbundene Bereichung und Befruchtung darzustellen. Nicht das trennende hatte für ihn Priorität, nein, das verbindende Element gesellschaftlichen Lebens war immer sein Fokus, doch ohne das Anliegen, dass sich die Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft ‚auflösen’ sollte. Mit dieser bahnbrechenden Arbeit über die Geschichte der Warschauer Juden, die 1932 gedruckt wurde, hat die Richtung seiner künftigen wissenschaftlichen Studien bestimmt. Vom Beginn der jüdischen Ansiedlung bis zu deren fast vollständiger Vernichtung 1943 im Gefolge des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto. Besonders interessierten den jungen Ringelblum allgemeine soziale Fragen sowie die spezifisch jüdischen Nationalitätenprobleme. Probleme, die sich auch in seiner Geschichtsschreibung und Dokumentation des jüdischen Alltagslebens in Warschau darstellten. Natürlich interessierten ihn als Wissenschaftler die großen Zusammenhänge, doch legte er seinen Fokus auf die ‚Kleinigkeiten’ des Alltags, um diese mosaikartig zu einem Bild zusammenzufügen. Diese Art der wissenschaftlichen Arbeit war neu und begeisterte nicht nur universitäre Kreise. Diese Form der Arbeitsweise spiegelte sich auch später im Untergrundarchiv ‚Oneg Shabbat’, dem letzten Werk Ringelblums, wider. Mehrere Jahre arbeitete er als Geschichtslehrer an jüdischen Schulen, und bald begann er auch seine Mitarbeit am 1925 gegründeten Yidisher Visnshaftlekher Institut (YIVO) in Wilna, einem Zentrum zur soziologischen und sprachwissenschaftlichen Erforschung der jiddischen Sprache. Schon hier lernte Ringelblum den Umgang auch mit der Konspiration kennen, ging das YIVO doch in seinen Wurzeln bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, als die Grundlagen der modernen jüdischen Wissenschaft im Verborgenen konspirativer Arbeiterzirkel begonnen hatte. Dabei arbeitete das YIVO nicht allein sprachwissenschaftlich, sondern widmete sich insbesondere auch dem Grenzbereich zwischen Geschichte, Ökonomie, Soziologie und Ethnographie, wobei mit nichtprofessionellen Interviewern das Alltagsleben der Menschen erforscht werden sollte. Diese Methode wandten Ringelblum und seine Mitarbeiter später im Warschauer Ghetto an. In den politisch bewegten Jahren der jungen Republik Polen trat er der marxistisch-zionistischen Partei 'Poalei Tzion' bei und wurde schnell zu einem ihrer führenden Vertreter. Er propagierte einen proletarischen Palästinismus, der die Gründung eines sozialistischen jüdischen Territoriums in Palästina anstrebte, auch wenn dieses Projekt für ihn ein weit entfernter Zukunftstraum war. Die Grundlage sollte ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben der Einwanderer mit der arabischen Bevölkerung sein. Weiterhin gehörte Ringelblum auch zu den Mitbegründern eines Kreises junger Historiker im Jüdischen Studentenheim in Warschau, dessen Arbeit als ‚Seminar zur Geschichte der Juden in Polen’ bekannt wurde und aus dem 1929 die dem Wilnaer YIVO angeschlossene Warschauer Kommission für die Geschichte der Juden in Polen hervorging. Die Resultate dieser Arbeit konnte Ringelblum später erfolgreich für seine Lehrpraxis im Geschichtsunterricht der ‚Centrale Jidische Schul Organisatzie’ umsetzen, die CYSHO war eine Initiative jüdischer Schulen zur Verbreitung der jiddischen Unterrichtssprache vor dem Hintergrund laizistischer, sozialistischer Orientierung, für die Ringelblum lebenslang kämpfte. Gleichzeitig aber engagierte sich Ringelblum auch für ein Geschichtsbild, das die Juden als integrativen Bestandteil der polnischen Geschichte ansah. Schon in dieser frühen Phase habe der überzeugte Aufstand im Warschauer Ghetto - 65. JahrestagSozialist Ringelblum seine wissenschaftliche Arbeit als Teil eines politischen Kampfes verstanden, in dem es darum ging, die polnische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Antisemitismus nicht nur kontraproduktiv und schädlich war, sondern auch auf einer völlig falschen Interpretation der polnischen Geschichte beruhte. Die Geschichtsforschung verwandelte sich alsbald in eine Waffe zur Verteidigung der jüdischen Ehre. 1933 organisierte Ringelblum die Teilnahmen des YIVO am 7. Internationalen Kongress der Historischen Geschichtswissenschaften in Warschau, wo er sein Referat über ‚Die soziale und wirtschaftliche Situation der polnischen Juden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts’ vortrug. Ringelblum und seine Kollegen, die für die jüdische Emanzipation, Zionismus und Sozialismus zusammengehörten, richteten sich gerade an die polnische Linke als er sagte: „Die Linke sollte gezwungen werden, die Juden ernst zu nehmen. Ohne gründliche Kenntnis der jüdischen Geschichte [...] würden die Sozialisten und Kommunisten an ihren irrigen Ansichten über die Juden festhalten und immer wieder die falsche – durch eine oberflächliche Interpretation von Marx und Lenin scheinbar gestützte – Generalisierung verkünden, dass die Juden eine ‚Kaste’ seien und kein Volk.“ 1938 wurde Ringelblum als Vertreter des ‚Joint Distribution Committee’ in das Auffanglager Zbąszyń an der Grenze zu Deutschland geschickt, um die Ende Oktober 1938 dorthin vertriebenen, etwa noch 6000 polnischen Juden karitativ zu betreuen. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte Ringelblum sich als Vertreter einer jungen Generation sozialistischer Historiker, die als Jüdinnen und Juden nicht auf eine akademische Karriere hoffen konnten, einen Namen gemacht. Nicht nur war er Gründer der Zeitschrift ‚Yunger Historiker’, Mitarbeiter des jüdischen Forschungsinstituts YIVO und Herausgeber eines Quellenbandes zur Geschichte des osteuropäischen Judentums, er war auch einer derjenigen, die die Bedeutung des ‚zamling’ betonten, des Sammelns und Editierens von Quellen und Dokumenten insbesondere aus der jüdischen Arbeiterbewegung. Kurz nach Beginn des deutschen Überfalls auf Polen wurde Ringelblum Mitarbeiter der ‚Aleynhilf’, der bedeutendsten jüdischen Hilfsorganisation in Polen. Als einer ihrer Organisatoren geriet er 1940 ins Warschauer Ghetto, wo er als Leiter des 'Öffentlichen Sektors' der ‚Aleynhilf’ weiterarbeitete. Bereits seit Beginn der 30iger Jahre war Emanuel Ringelblum äußerst pessimistisch hinsichtlich des Judentums in Europa, doch kam für ihn ein Auswandern nie in Frage, denn er wollte als Zeitzeuge und zwar in seinem wahrsten Sinne des Wortes, den Niedergang des pulsierenden jüdischen Lebens erleben und aufzeichnen. Während Emanuel Ringelblum das ‚Oneg Shabbat’, also die Untergrundpresse des Ghettos archivierte, externe AutorInnen für das Verfassen von Berichten und Zeitzeugen-Interviews bezahlte und Buchtitel Emanuel Ringelblum Idie soziale Wirklichkeit des Ghettos im Laufe der Jahre auf mehr als 35.000 Seiten festhielt, war es ihm auch wichtig, Fotos, Tagebuchaufzeichnung und Erfahrungsberichte der Ghettobewohner zu sammeln. Ringelblum und seine Mitarbeiter ahnten, dass sie womöglich dabei waren, das letzte Kapitel der tausendachthundertjährigen Geschichte des polnischen Judentums zu schreiben, jedenfalls gaben sie sich dahingehend keinerlei Illusion hin. David Graber im August 1942 war gerade einmal 19 Jahre alt, als er diese düsteren Zeilen schrieb: „Was wir nicht in die Welt hinaus rufen und schreien konnten, haben wir im Boden vergraben. [...] Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt. [...] Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist [...] Wir können jetzt in Frieden sterben.“ Doch noch einmal änderten sich die Intentionen des sich bildenden Archivs, nachdem die ersten Massendeportationen Richtung Treblinka zur Vernichtung von Männern, Frauen und Kindern das Ghetto verließen, im Juli 1942 waren es 256 Tausend Menschen, sahen sich Ringelblum und seine Streiter auch als Untergrundkämpfer, um der Nachwelt von all den täglichen Ungeheuerlichkeiten zu berichten, aber auch um die damaligen Regierungen und Kriegsgegner Hitlers von den Vorkommnissen zu unterrichten. So gelang es der Gruppe im Mai 1942, Berichte über das erste Todeslager in Chełmno zur polnischen Exilregierung nach London zu schmuggeln, ein großer Erfolg, wie Ringelblum in seinen Tagebucheinträgen festhielt: „Heute im Morgengrauen hörten wir eine britische Radiosendung über die polnischen Juden. [...] Monatelang haben wir gelitten, weil wir glaubten, der Welt sei unsere Tragödie gleichgültig, die beispiellos in der Geschichte der Menschheit ist. [...] Unsere Mühen und Anstrengungen waren nicht vergeblich. Wir haben dem Feind einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Emanuel Ringelblum wollte jede Phase der traumatischen Entwicklung festhalten. Ihm war bewusst, dass die Erinnerung oft unvollständig ist und das selektive Gedächtnis, besonders im Getto, die Vergangenheit verfälscht. Die Momentaufnahmen sollten detailliert festgehalten werden. „Ähnlich wie fromme Juden an das Erscheinen des Messias Buchtitel Emanuel Ringelblumglaubten, hoffte Ringelblum, dass nach dem Krieg auf den Trümmern des europäischen Kapitalismus eine andere gesellschaftliche Ordnung entstehen würde [...] Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein würden die Waffen im Kampf um eine bessere Welt sein“, so konstatiert der später Historiker und Ringelblumbiograph Samuel Kassow und Kassow weiter: “Im Angesicht des Schreckens konnte Sprache sowohl ermutigen als auch trösten. Schreiben hieß, sich kostbarer Individualität zu vergewissern, selbst in der Gegenwart des Todes, hieß Widerstand leisten, und sei es nur, um die Mörder ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Schreiben hieß, die Niederlage der Mörder zu vollenden, indem man sicherstellt, dass künftige Historiker unter Berufung auf die Schreie der Opfer die Welt verändern.“ Marcel Reich-Ranicki, der im Judenrat als Übersetzer im Warschauer Ghetto arbeitete erinnerte sich an Emanuel Ringelblum: „Ein stiller, unermüdlicher Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein erstaunlich beherrschter und zielbewusster Mann. Immer hatte er es eilig, unseren wenigen Gespräche waren leise, knapp und ganz sachlich. [...] Aber ich sehe ihn immer noch vor mir, ihn, Emanuel Ringelblum, den schweigsamen Intellektuellen.“ Emanuel Ringelblum wurde am 7. März 1944 mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und anderen Untergetauchten in seinem Versteck aufgestöbert. Einige Tage später wurden alle, zusammen mit den polnischen Beschützern, im Warschauer Pawiak-Gefängnis von Deutschen erschossen und an unbekanntem Ort verscharrt. Die Dokumente und Aufzeichnungen wurden im Warschauer Ghetto in drei Phasen in Metallgefäßen und Milchkannen von seinen Mitarbeitern im Ghetto versteckt und tief vergraben. Im September 1946 wurde ein erster Teil ausgegraben, der zweite vier Jahre später. Der dritte Teil, Blechkisten+Milchkannen des Ringelblum-Archivsder große Mengen an Information über den Widerstand und die Kämpfe des Aufstands im Warschauer Ghetto enthalten soll, konnte bisher nicht gefunden werden. Die Sammlung ‚Oneg Shabbat’ ist heute unter der Bezeichnung ‚Ringelblum-Archiv’ zu einem historischen Begriff geworden und wird im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Sie umfasst 1.680 Archivposten, etwa 25.000 Seiten. Einige exemplarische Teile der Sammlung sind in einer Ausstellung zu sehen. So wurde Saul Friedländers spätere Forderung: "Gebt der Erinnerung Namen!" damals schon das zentrale Anliegen der Gruppe im Warschauer Getto. 1999 wurde das Archiv in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen. Der Historiker Kassow: “Hätte Ringelblum überlebt, so wäre er der Erste gewesen, der gefordert hätte, dass sich die Historiografie des Holocaust nicht nur mit den Tätern und den Duldern, sondern auch mit den zum Schweigen gebrachten Stimmen der Opfer beschäftigen müsse.“ Bedauerlicher Weise ist anzumerken, dass das Ringelblum-Archiv bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde …

Weiterlesen:

➼ Das ehemalige Vernichtungslager Chełmno

➼ Ein SS-Mörder über die Ermordung Tausender Juden

Antisemitismus • Versuch einer Definition

➼ Die ‚Nürnberger Gesetze’ • Wegbereiter zum Holocaust

Bild 1: Emanuel Ringelblum – Quelle: wikimedia.org · Bild 2: Menschen im Warschauer Ghetto – Quelle: spiegel.de · Bild 3+4: Buchtitel E. Ringelblum – Quelle: amazon.de · Bild 5: Ausgrabund des Ringelblum-Archivs – Quelle: yadvashem.org


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