Seit Tagen kreisen meine Gedanken um die Themen Roadtrip und Autofahren. Ausgelöst durch zwei Bücher, welche völlig verschiedene Welten beschreiben. In der einen Welt fahren Frauen wie Betty und Martha in Lucy Frickes Roman Töchter rauchend und mit wehendem Haar in einem alten Golf völlig unproblematisch durch Europa. In der anderen Welt haben Frauen wie Manal aus Losfahren nicht mal die Erlaubnis, sich ans Steuer zu setzen. Auch wenn es dazu keinen einzigen Paragrafen gibt, gilt dies in Saudi-Arabien als sittenwidrig.
Stop! Es galt als sittenwidrig! Denn in der Nacht vom 23. zum 24.06.2018 wurde das Fahrverbot für Frauen aufgehoben. Der erste wichtige Schritt ist getan. Nun müssen die Frauen unendlich viel Mut beweisen, ihren Führerschein machen und losfahren … so wie Manal al-Sharif es in ihrem autobiographischen Roman beschreibt.
Auch wenn Losfahren und Töchter verschiedener nicht sein könnten, kreisen beide Geschichten durch meinen Kopf, als seien sie Verbündete. Bei Lucy Fricke erlebe ich unbedingte Freiheitsgefühle. Ich wünsche mir beim Lesen eine Freundin wie die Schriftstellerin Betty, die gnadenlos alles ausspricht. Und die souverän zu ihrer Schreibblockade steht und sagt, sie würde lieber für immer schweigen, als jemals nüchternes sauberes Zeug zu schreiben – Bücher die jedem gefallen. Mit Betty würde ich ohne Bedenken sofort und wahnsinnig gern einfach losdüsen. Alle Fesseln loslassen und kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Die Autorin erzählt diese absurd komische Road Novel mit einer grenzenlosen Unbeschwertheit. Ein Grund, warum das Buch auch meine absolute Empfehlung ist für Urlaub, Freizeit und Sommer. Ein Buch für Männer und für Frauen. Zwei sehr gute und ausführliche Besprechungen findet Ihr bei buchrevier und Kaffeehaussitzer.
Die Geschichte von Manal al-Sharif wiederum ist eine Geschichte der Begrenzungen und Verbote für saudische Frauen und erinnert mich an Deborah Feldmans Unorthodox. Beide Bücher erzählen autobiographisch von der Befreiung mutiger junger Frauen aus streng religiösen Zwängen. Und wieviel Mut es braucht, aus dieser Welt auszusteigen.
Manal ist meine arabische Betty. Auch sie will keinesfalls jedem gefallen. Auch sie sehnt sich nach Freiheit. Doch bedeutet Freiheit für sie bereits, einmal ohne männliche Begleitung und ohne die alles verhüllende traditionelle Verschleierung durch Abaya und Niqab das Haus zu verlassen. Am Meer sitzen zu können und den salzigen Wind im Gesicht zu spüren. Sie sieht in der Aufhebung des Fahrverbots für Frauen einen ersten Schritt in der Emanzipation der saudischen Frauen – denn beginnt nicht jeder Regen mit einem einzigen Tropfen?!
Manal geht das Wagnis ein, einfach loszufahren und diese Situation von ihrer Freundin filmen zu lassen. Das Video wurde auf Youtube Hunderttausende Male angeklickt. In ihrem Buch schreibt sie: Mein Herz raste, als ich auf die Kupplung trat, den Zündschlüssel drehte, und hörte, wie der Motor ansprang. Ich legte den Rückwärtsgang ein. Ich hatte mich zu dieser Fahrt entschlossen … Ich wollte unbedingt selbst fahren (Seite 299). Sie kommt für kurze Zeit ins Gefängnis, zieht unendlich viel Hass auf sich. Doch für viele Frauen in Saudi-Aarabien ist Manal al-Sharif eine Heldin. Ihre Tat war ganz sicher der eine Regentropfen von vielen für das Recht der Frauen, Auto zu fahren. Es folgen hoffentlich weitere Rechte. Doch zuerst braucht es wohl ungeheuer viel Mut, sich als Frau am Steuer auf die Strassen Riads zu begeben …
Ich erinnere mich an meine eigenen ersten Fahrstunden in einer relativ toleranten Welt. Keiner, der mir Autofahren verboten hätte. Aber da war auch kein Mann weit und breit, der mich ermutigt hätte. Ich war unsicher, hatte Respekt vor der Gangschaltung und dem Kupplungspedal. Ich brauchte unendlich lange, bis ich endlich den Führerschein in der Hand hielt. Erst als ich damals ganz allein mit dem Trabi durch das nächtliche Berlin sauste, bekam ich ein angstfreies Fahrgefühl und fahre bis heute gern Auto.
Lucy Fricke. Töchter. Verlag Rowohlt. Reinbek 2018. 235 Seiten. 20 €
Manal al-Sharif. Losfahren. Aus dem Englischen von Gesine Strempel und Joachim Zepelin. Secession Verlag für Literatur. 2017. 380 Seiten. 25 €