Eine Wiederentdeckung

Während meiner ersten Jahre als Hausarzt (seit 1994) traf ich mich im Rahmen eines so genannten Qualitätszirkels regelmäßig mit Arztkollegen. In diesem Kreis besprachen wir Probleme unserer Behandlungen und versuchten, voneinander zu lernen. Die Sitzungen waren meistens entmutigend, weil wir uns kaum in der Lage sahen, aufgrund unserer mitgebrachten Patientenakten Zusammenhänge zu erkennen, die uns weitergebracht hätten. Wir diskutierten Themenkreise wie Schwindel, Rückenschmerzen, Diabetes oder chronische Erschöpfungszustände.
Dabei fiel mir auf, dass viele Patienten über Erschöpfungszustände klagten. Den meisten von ihnen hatte man eine Diagnose wie „vegetative Dystonie“, „Neurasthenie“, „Chronic Fatigue Syndrom“, „Burn-out-Syndrom“, „psychosomatisch krank“ oder „depressiv“ gestellt und sie auch entsprechend behandelt. Das gab mir zu denken. Ich war überzeugt: Ein Hausarzt sollte sich in die Lage versetzen, tiefere Zusammenhänge zu erkennen als jene, die er während seiner Ausbildung und in den Spitälern kennengelernt hat. Er müsste sich die Möglichkeit schaffen, die Millionen seiner Patientendaten miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise könnten Gemeinsamkeiten herausgefunden werden, die ihrerseits mögliche Kausalzusammenhänge aufzeigen. In Zusammenarbeit mit einem Informatiker entwickelte ich deshalb 1997 eine eigene Praxissoftware (medizinische Datenbank für die Optimierung der Patientenbetreuung MEDAOPT). Sie versetzte mich in die Lage, viele meiner bis dahin offenen Fragen nach und nach zu beantworten. Als Erstes ergab die Datenbank-Abfrage, dass etwa neunzig Prozent der von den genannten Symptomen Betroffenen weiblich waren – die meisten von ihnen im Alter zwischen zwanzig und fünfzig Jahren.

Die erste Gemeinsamkeit war gefunden worden: Es handelte sich bei den betreffenden Patienten mit Erschöpfungszuständen hauptsächlich um Frauen im Menstruationsalter.

Nun stellte sich die Frage, ob sich bei diesen eine weitere objektivierbare Gemeinsamkeit finden ließ. Zu diesem Zweck „befragte“ ich die Datenbank, ob es bei den Blutwerten zwischen den Männern und Frauen signifikante Unterschiede gibt. Die hierfür entscheidende Antwort des Computers war: Während Blutparameter wie Zucker- und Cholesterinwerte, Leber- und Nierenwerte, Hormonspiegel oder Elektrolyte bei beiden Geschlechtern in etwa gleich waren, fiel auf, dass die Eisenkonzentration bei Frauen im Menstruationsalter fünf- bis zehnmal niedriger war als bei Männern.

Daraus resultierte die zweite Gemeinsamkeit: Die „neurasthenischen“ Frauen hatten verhältnismäßig sehr wenig Eisen „an Bord“.

Ich kam deshalb nicht umhin mich zu fragen, ob ein Zusammenhang zwischen einer geringen Eisenkonzentration im Körper und einer chronischen Erschöpfung bestehen kann. Beantworten ließ sich das aber nur dann, wenn man in der Praxis die Eisenkonzentration der Patientinnen derjenigen der Männer anglich, nämlich durch eine entsprechende Zufuhr von außen. (Offensichtlich reichte bei den Betroffenen die Eisenzufuhr durch die Nahrung nicht aus, um den durch die Regel bedingten Eisenverlust auszugleichen).

Die erhoffte Antwort ließ aber fast ein ganzes Jahr lang auf sich warten. Denn um das festgestellte Defizit aufzufüllen gab ich den Patientinnen während dieser Zeit zunächst Eisentabletten. Obwohl ich verschiedene Präparate einsetzte, gelang es mir praktisch nicht, die Eisenkonzentration wirklich zu erhöhen. Stand doch schon in den Lehrbüchern, dass Eisentabletten vom Darm nur sehr schlecht aufgenommen werden. Meine Patientinnen fühlten sich gewissermaßen als „Durchlauferhitzer“, da sie über 95% des geschluckten Eisens wieder ausschieden. Eine Abschwächung der beklagten Symptome blieb folglich bei den meisten aus, dafür berichteten nicht wenige von unerwünschten Nebenwirkungen wie Bauchschmerzen, Blähungen oder Verstopfung.

Nachdem rund hundert Patientinnen auf diese Art nahezu erfolglos behandelt worden waren, entschloss ich mich, die Vorgehensweise zu ändern. Offensichtlich musste das fehlende Eisen direkt in den Blutkreislauf gebracht werden. Also applizierten wir es intravenös. Es dauerte nur wenige Monate, bis eine bahnbrechende Entdeckung gemacht werden konnte:

Eine dritte Gemeinsamkeit war gefunden. Wenn man die Eisenkonzentration von Mangelpatientinnen derjenigen von Männern angleicht, verschwinden die vom Eisenmangel herrührenden Symptome in den meisten Fällen „von selbst“.

Die Hypothese eines Eisenmangelsyndroms war bei mir geboren. Ich wusste damals noch nicht, dass ich es nur wiederentdeckt hatte.

Das „Diktat“ der Patientinnen

Es hatte sich herausgestellt: Die meisten Patientinnen mit einer geringen Eisenkonzentration profitierten von intravenösen Eisengaben. Ihre chronischen Erschöpfungszustände verschwanden oder besserten sich zumindest deutlich. Die Überraschung folgte auf dem Fuß: Bei den Nachkontrollen fühlten sich die Patienten nicht nur wieder „lebendig“, die meisten von ihnen „diktierten“ mir weitere Symptome, die durch die Eisengaben verschwunden waren. Im Rahmen meiner computergestützten Nutzenbewertung konnte ich kurz nach dem Millennium eindeutig feststellen, dass Eisenmangel nicht nur zu chronischen Erschöpfungszuständen, sondern auch zu weiteren Symptomen führen kann, beispiels-weise zu Konzentrationsstörungen, depressiven Verstimmungen, Schwindel, Schlafstörungen, Nackenverspannungen oder Haarausfall. 2004 war es dann so weit. Es gelang mir, zehn Symptome aufzulisten, die bei Eisenmangel auftreten können und nach individuell dosierten Eisengaben in den meisten Fällen verschwinden.

Der Krankheitsbegriff des Eisenmangelsyndroms IDS (Iron Deficiency Syndrome IDS) wurde von mir bewusst gewählt, handelt es sich doch innerhalb eines spezifischen Rahmens um eine Vielzahl von Symptomen mit einer gemeinsamen Ursache.

Die Erkenntnisse führten mich 1998 erstmals zu der Überzeugung, dass Eisenmangel auch schon vor einer Anämie zu Symptomen führen kann. Als Forscher und grundsätzlich neugieriger Mensch, vor allem aber als Arzt, der seinen Patienten die bestmögliche Therapie anbieten will, stand für mich außer Frage: Dieses Thema musste weiter erforscht werden. Hierfür schien es unerlässlich, die genannten Erkenntnisse auf eine fundierte wissenschaftliche Basis zu stellen. Denn allzu viele Patientinnen leiden jahrelang unerkannt an einem Zustand des Eisenmangels und müssen deshalb nutzlose Abklärungen und Therapien über sich ergehen lassen.

Laut World Health Organisation (WHO) ist Eisenmangel die häufigste Volkskrankheit. Auch in Europa dürften somit etwa fünfzig Millionen davon betroffen sein. Ein Großteil von ihnen könnte durchaus geheilt werden. Allerdings hätte eine volksnahe und akademische Aufklärung nicht nur positive Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Betroffenen, sondern auch direkte Folgen für die ökonomische Situation der Gesundheitswirtschaft, speziell der Pharmaindustrie – Folgen, die sehr ambivalent wären, denn es gäbe „mehr Gesundheit für weniger Geld“. Insofern besitzt die Hypothese des Eisenmangelsyndroms nicht nur im medizinischen, sondern auch im politischen Sinne einige „Sprengkraft“.
Für FrauenBlog von Dr. med. Beat Schaub, Swiss Iron Health Organisation SIHO
Dr. med. Beat Schaub
Erstes Ärztliches Eisenzentrum, Binningen (www.eisenzentrum.org)
Swiss Iron Health Organisation SIHO, Basel (www.siho-global.org)
Praxisstudie der SIHO (www.eurofer.ch)

 


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