Eine Welt ohne Vorurteile ist nicht denkbar

Vernimmt man konsterniert, dass wieder mal Homosexuelle verunglimpft oder Ausländer ausgegrenzt werden, dann wünscht man sich im ersten Anflug von Utopie, die in jedem Menschen mehr oder minder schlummert, eine Welt ohne Vorurteile. Ein solches Erdenrund ist für viele Organisationen, die sich um die Belange so genannter Randgruppen kümmern, das ferne Ziel am Horizont. Eine begrüßenswerte Utopie freilich - aber eine, man kennt den Mensch in seiner Unvollkommenheit mittlerweile seit Jahrtausenden, die kaum Wirklichkeit werden kann. Optimisten würden nun intervenieren und von einen verquasten Pessimismus sprechen, der sich hinter einer solchen Aussagen verkappe. Dabei macht diese Aussage nichts von dem wett, was man sich als lebenswerte Gesellschaft wünscht.

Das Ressentiment ist, so muß man leider feststellen, eine menschliche Regung. Es kann nicht einfach aberzogen werden. Umerziehungsdiktaturen gab es im letzten Jahrhundert ausreichend - sie wollten zwar nicht den vorurteilsfreien Menschen schaffen, konträr, sie waren darauf getrimmt, bestimmte Vorurteile so auszunutzen, dass ihre Strukturen verfestigen wurden. Aber man könnte aus dem Umerziehungswahn der Kommunisten und Faschisten doch lernen, dass der Mensch letztlich ist wie er ist - und es auch immer bleiben wird. Er ist edel, hilfreich und gut - und er ist hinterlistig, selbstsüchtig und schlecht. Außerdem leidet er unter einer Litanei an Vorurteilen, die freilich individuell verschieden geartet, ausgeprägt oder vorhanden sein können. Xenophobie beispielsweise ist damit letztlich kein Akt der Dummheit, sie ist menschlicher Affekt, den Evolutionstheoretiker als eine Art Abwehrmechanismus gegen fremde Individuen oder Gruppen klassifizieren - ein Affekt, der aus zotteligeren Tagen stammt.

Hervorragend!, wird mancher zynisch fluchen. Mit dieser revisionistischen Ansicht verkommt die Fremdenfeindlichkeit zum Kavaliersdelikt, weil sie gewissermaßen evolutionär entschuldbar würde. Ein fremdenfeindlicher Totschläger wäre am Ende gar ein feiernswerter Verteidiger der eigenen Gruppe, des Vaterlandes, etwas pathetischer ausgedrückt. Träumt man von einer vorurteilsfreien Gesellschaft, so sind diese Bedenken freilich anstandslos zu teilen. Glaubt man aber weniger idealistisch behaftet, dass ein vorurteilsfreies Idyll niemals wirklich werden kann, so sieht es anders aus, so wertet man distanzierter. Denn wir leben nicht mehr in zotteligen Tagen, wir traten irgendwann in die Zivilisation. Und es käme der Angelegenheit angemessener zupass, wenn anstatt von einer "vorurteilsfreien Gesellschaft" von einer "zivilisierten Gesellschaft" gesprochen würde - darin enthalten wäre das, was man sich stets dann wünscht, wenn man das Vorurteil aus den Menschen herauserziehen möchte.

Denn wenn Zivilisiertheit überhaupt etwas bedeutet, dann seine Ressentiments im Griff zu haben. Man kann sie nicht aus den Menschen extrahieren, sie sich wegdenken. Sie sind da, werden immer da sein. Selbst der toleranteste und aufgeklärteste Mensch wird sich denken: "Oh, der ist ja schwarz!" oder "Wie sieht der denn aus mit seinem Turban?" oder "Warum küsst dieser Kerl einen Kerl?" Aber das macht den Unterschied aus, denn der Tolerante oder Aufgeklärte, als Produkt zivilisierter Zustände, er wird es sich denken. Und damit ist viel gewonnen! Er könnte es nämlich auch sagen, darüber spotten, zum Gegenstand von Niedertracht machen. Oben hieß es, Xenophobie sei "letztlich kein Akt von Dummheit" - das ist natürlich zu einfach. Dummheit ist vielmehr, trotz Zivilisation dieser instinktiven Haltung zu frönen; sich nicht zivilisiert mitentwickelt zu haben; noch im Fell irgendeines Primaten zu stecken. Seine Ressentiments zügeln zu können, das bedeutet in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben. Dies ist noch lange keine vorurteilsfreie Gesellschaft, die es gemäß conditio humana nicht geben kann. Aber sie ist vielleicht die beste aller möglichen Gesellschaften, die sich mensch denken kann - mehr ist schon kaum vorstellbar. Es ist Heuchelei, wenn Zeitgenossen gelegentlich behaupten, sie sähen keine Hautfarbe mehr, kein Geschlecht oder keine Neigung; für sie seien alle gleich. Wäre dem so, müsste man es nicht selbstlobend hervorheben; wäre dem so, bräuchte es keine Quotenregelungen!

Das in uns schwärende Vorurteil zu bändigen, zu unterdrücken, es ist eine Kulturleistung. Es hinauszuposaunen, das ist Kulturlosigkeit! Da fehlt zivilisiertes Auftreten! Vorurteilsfrei kann es nicht zugehen, wo der Mensch heimisch ist - das Vorurteil ist menschlich. Es ist ein fatales Missgeschick der abendländischen Philosophie, dass sie die Menschlichkeit, die humanitas, nicht nur sprachlich, mit allen Guten, Liebenswerten, Fürsorglichen konnotierte - Menschsein und Gutsein sind dummerweise begrifflich aneinandergeraten, obwohl Menschsein viel zu oft auch Schlechtsein bedeutet. Seien Sie doch menschlich!, ist ein Imperativ, der beispielsweise Rücksicht oder Nachsicht verlangt, so versteht man diese Aufforderung jedenfalls - Seien Sie doch menschlich! könnte aber auch meinen, zu morden wie Menschen, zu neiden wie Menschen, zu hassen wie Menschen. Der Mensch ist ein Wesen aus der Natur, plump formuliert: er ist ein Tier - und er gleicht damit anderen Spezies. Auch Schimpansen scheinen Ressentiments gegen Individuen und andere Gruppen der eigenen Gattung zu kennen; ja sie morden sogar.

Das heißt aber freilich alles nicht, dass man so ein negatives Verhalten dulden müsste, nur weil es im Menschen veranlagt ist. In der Gesellschaft trat der Mensch aus dem Naturzustand heraus - so in etwa theorisierte Rousseau darüber; später bewies Kropotkin anhand von Feldstudien, dass die gegenseitige Hilfe ein Aspekt des gesamten Natur und damit auch des Menschen als soziales, gemeinschaftliches Wesen ist. Gesellschaft bedeutet letzthin, aus dem grundlegenden Naturzustand zu entfliehen - in eine Künstlichkeit zu gelangen, in ein künstliches Milieu, in dem auch moralische Vorstellungen als Kulturleistung ihren Anfang nahmen. Plessner subsumierte das unter dem Schlagwort "natürliche Künstlichkeit". Die Gesellschaft ist daher immer irgendwo ein Arrangement zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit, zwischen Bändigung des Naturzustandes und dem Durchschlagen bestimmter natürlicher Affekte, die im künstlichen Milieu nutzlos geworden sind. Wenn das Vorurteil beim Menschen durchschlägt, ist das durchaus ein natürlicher Komplex, der allerdings im Widerstreit zur Zivilisation auftritt - es ist eine Reminiszenz an längst vergangene Tage.

Wenn daher schon keine vorurteilsfreie Gesellschaft möglich ist, so doch eine vorurteilsunterdrückende Gesellschaft, eine, die das Vorurteil mundtot macht. So wie die Sexualität auf einen menschlichen Trieb gründet, aber nicht öffentlich und hemmungslos an jeder Bushaltestelle praktiziert wird, so kann auch das Ressentiment gesehen werden: als trauriger Trieb, den man nicht allerorten, ungeniert und vor aller Ohren abspritzen soll. Eine Welt ohne Vorurteil ist nicht denkbar - eine, in der das Vorurteil gezügelt, gebremst, gedrosselt und gedämmt wird, allerdings schon...


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