Eine Weihnachts-Zugfahrt, die ist lustig

Am 1. Weihnachtsfeiertag fahren wir traditionell zu meinen Eltern in den Westerwald (genau, das ist dort, wo – sofern man dem deutschen Volksliedgut glauben möchte –, der Wind so kalt pfeift) und feiern dort gemeinsam mit der Familie und Freunden Weihnachten. Dabei ist es immer ausgelassen fröhlich, mäßig besinnlich und immer sehr nährstoffreich. Dafür reisen wir gerne mit dem Zug fünfeinhalb Stunden quer durch die Republik. Und – sofern man auch hier dem deutschen Volksliedgut glauben möchte –, ist eine Zugfahrt ja lustig.

Um unser Leben spannend und abwechslungsreich zu gestalten, fahren wir am 1. Weihnachtsfeiertag sechs Stunden Zug. Wir leben unseren Traum.

— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 25. Dezember 2014

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Freuen uns am späten Heiligabend, dass unser Zug am nächsten Tag erst um halb elf Uhr losfährt und wir die Fahrt morgens am Reisetag ganz in Ruhe und entspannt vorbereiten können. Adaptieren somit das protestantisch-arbeitsethische Motto „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nie auf morgen“ gemäß unseres Trägheit- und Faulheitzustandes und beschließen das Richten der Klamotten, die Zubereitung des Proviants sowie das Verstauen der Mitbringsel und Geschenke gemütlich am nächsten Morgen zu erledigen.

Stellen dann jedoch am nächsten Tag ernüchternd fest, dass diese Laissez-faires-Reisevorbereitung zwar in unserem Wunschdenken ganz hervorragend funktioniert, aber in der Realität eher problematisch ist, wenn man nicht pünktlich aufsteht, sondern erst um kurz nach 8 Uhr. Entsprechend hektisch bügelt die Freundin im Halbschlaf Hemden und Blusen für die Feiertagsgarderobe, um diese dann ihre Bügelbemühungen ad absurdum führend in eine Reisetasche zu stopfen. Danach rennt sie durch die Wohnung, sammelt Anziehsachen für die Kinder ein, richtet Kosmetik- und Hygieneartikel und ermahnt die Kinder pädagogisch-liebevoll, aber gleichzeitig militärisch-forsch, nicht so zu trödeln.

Eile derweil zum Bäcker, um Brötchen in Mengen zu besorgen, die ausreichen, eine ganze Kompanie auf einem Tages-Fußmarsch mit schwerem Gepäck zu verpflegen. Man könnte meinen, wir hätten gestern Abend nicht Pute, Rotkohl und Klöße gegessen, als gäbe es keinen Morgen mehr. Und auch keine Waagen mehr.

Wieder zuhause angekommen, schmiere ich wahllos Butter, Ketchup und Mayonnaise auf die Brötchen und belege sie nach dem Zufallsprinzip mit Käse, Salami und Schinken. Um während der Reise einer drohenden Unterzuckerung vorzubeugen, packe ich außerdem noch Kekse und Schokolade ein. Immerhin sind wir ja fast sechs Stunden unterwegs. Die Freundin erinnert mich daran, auch ein paar Äpfel zu schneiden, damit die gesunde Ernährung nicht zu kurz kommt. Wir lachen beide herzlich.

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Schaffen es schließlich, alles in Taschen, Tüten und Rucksäcken zu verstauen und laufen zügigen Schrittes zur Bushaltestelle. Ungefähr 200 Meter vor der Haltestelle überholt uns der Bus, der Richtung Hauptbahnhof fährt. Die Freundin und ich schauen uns kurz entsetzt an. Wir wissen beide, dass wir unbedingt mit diesem Bus fahren müssen, da wir sonst unseren Zug verpassen.

Den Armee-Ton des heutigen Morgen forsetzend brülle ich die Kinder an: „Tempo, Tempo, Tempo!“. Sie setzen sich sofort mit größtmöglicher Geschwindigkeit in Bewegung. Auch wir rennen unverzüglich los. Nun gut, für uns ist es rennen, für Außenstehende sieht es möglicherweise anders aus. Wenn Sie sich einen gestrandeten Wal vorstellen, der panisch versucht, zurück ins Wasser zu gelangen, haben Sie einen recht guten Eindruck von unserem Laufstil.

Schnappatmend und keuchend erreichen die Freundin und ich mit letzter Kraft den Bus. Die Kinder erwarten uns schon ungeduldig. Sie konnten den Fahrer unter Aufbringung aller Überzeugungskraft dazu bringen, noch nicht loszufahren.

Am Bahnhof stellen wir dann fest, dass unser Zug doch erst in 20 Minuten losfährt. Folglich hätten wir uns unsere sportive Höchstanstrengung sparen können. Die gewonnene Zeit wissen wir jedoch sinnvoll zu nutzen, indem die Freundin bei einer amerikanischen Kaffeehauskette koffeinhaltige Heißgetränke und Kakaos im Wert eines japanischen Kleinwagens besorgt. Da die Schlange vor dem Laden ungefähr 30 Meter beträgt, vergeht die Wartezeit wie im Flug und wir müssen durch den gesamten Bahnhof rennen, um unseren Zug nicht doch noch zu verpassen.

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Kaum haben wir unsere Plätze im Zug eingenommen, fängt es an, fürchterlich zu stinken. Fragen den Sohn, ob er beziehungsweise ein Pups von ihm die Geruchsquelle sei. Er schwört beim Leben seiner Eltern – also unserem –, dass er nicht der Übeltäter ist. Da er keinen großen materiellen Vorteil von unserem vorzeitigen Ableben hätte, glauben wir ihm.

Drehe mich um und entdecke hinter mir einen ausgewachsenen Dobermann. Sein Besitzer hebt entschuldigend die Hände und erklärt, der Hund leide an äußerst starken Blähungen. So wie der heutige Tag bisher verläuft, wundert es mich nicht wirklich, dass der ICE vierzehn Waggons und mehr als 700 Sitzplätze hat, „Dobbi, der Flatulator“ aber direkt hinter uns liegt.

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Der strenge Geruch hindert uns nicht daran, kaum dass sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, uns über unseren Proviant herzumachen. Schließlich ist es über die Weihnachtsfeiertage wichtig, zum Erreichen des vorgeschriebenen Tagesumsatzes von mindestens 5.000 Kalorien für eine stetige Nahrungszufuhr zu sorgen. Da muss man auch mal hart zu sich selbst sein.

Fordere Tochter und Sohn pädagogisch wertvoll und oecotrophologisch korrekt auf, auch von den Äpfeln zu essen, die seien nämlich gesund. Beide schauen mich entgeistert an. Die Tochter fragt bohrend, wann ich denn das letzte Mal Obst gegessen hätte. Erkläre ihr indigniert, dass das erstens nichts zur Sache tue und ich zweitens gerne für sie und ihren Bruder zurückstehe.

Nachdem ich die Kinder aufgefordert habe, nicht nur Kekse, sondern auch Obst zu essen, werfe ich jetzt in meinem Glashaus mit Dominosteinen.

— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 25. Dezember 2014

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Nach einer guten Stunde erreichen wir Wolfsburg, dieses Kleinod pittoresker Automobilfertigungshallen. Am Nachbartisch verlassen zwei Herren mit traurigem Blick und äußerst widerwillig den Zug. Würde die bedauernswerten Männer am liebsten in den Arm nehmen und ihnen tröstend zuraunen: „Es gibt ein Leben nach Wolfsburg“. Bin mir über den Wahrheitsgehalt einer solchen Aussage aber unsicher und bleibe lieber stumm.

Der nächste Halt ist Braunschweig. Ein Blick auf die doch eher trostlose Skyline, ermahnt mich, die städtebaulichen Errungenschaften Wolfsburg mehr zu schätzen.

Eine junge Frau steigt zu. Ihr Freund trägt ihren Koffer und verfrachtet ihn in der Gepäckablage. Danach verabschieden sich die beiden eng umschlungen mit einem innigen, langandauernden Kuss. Nachdem dieser mehr als 60 Sekunden anhält, wächst bei mir die Vermutung, dass es sich möglicherweise gar nicht um eine Verabschiedung, sondern um ein nicht jugendfreies, den Koitus einleitendes Vorspiel handelt. Die Tochter kichert errötend, der Sohn verzieht das Gesicht, als müsse er sich gleich übergeben. Schließlich lösen sich die beiden voneinander, der Freund verlässt den Zug, die Freundin setzt sich in die Reihe vor uns.

Auf dem Bahnsteig angelangt, stellt sich der vom Trennungsschmerz gepeinigte Freund vor die verspiegelten Scheiben des ICE und wirft verliebte, aber orientierungslose Kusshände in meine Richtung. Überlege, seinen Irrtum aufzuklären und ihm zu signalisieren, dass seine Freundin einen Meter weiter vorne sitzt. Forme stattdessen mit meinen Händen ein Herz und puste einen Kuss hindurch. Seine Freundin schaut irritiert. Meine ebenfalls.

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Sitzen nun schon seit dreieinhalb Stunden im Zug und die Fahrt zieht sich allmählich. Um mir die Zeit zu vertreiben; frage ich den Sohn, ob ich mit seinem Nintendo eine Runde FIFA 11 spielen darf. Er erlaubt es mit einem gnädigen Nicken.

Spiele drei Partien. Sie sind von meiner unzureichenden Feinmotorik, defizitären Koordinationsfähigkeit und mangelhaften Lernfähigkeit geprägt und enden mit drei vernichtenden Niederlagen bei einem Torverhältnis von 1 zu 23 (mein einziger Treffer war selbstverständlich ein Eigentor der gegnerischen Mannschaft). Der Sohn schaut fassungslos zu und verliert jeglichen Respekt vor mir. Er sieht aus, als würde er sich am liebsten zur Adoption freigeben. Oder noch besser mich.

Dann fühlt er sich bemüßigt, mir FIFA-11-Nachhilfe zu geben. Mit ernster Miene erklärt er mir, dass ich einfach mehr Tore als die andere Mannschaft schießen müsste. Gebe ihm zu verstehen, dass ich mit den Grundprinzipien des Fußballspiels durchaus vertraut sei. Sein Blick signalisiert mir, dass er dies ob meiner armseligen Vorstellung von eben stark bezweifelt.

Danach muss ich mir quälende zehn Minuten anschauen, wie der Sohn in einem Match, in dem er die deutsche Mannschaft spielt, das französische Team mit 9 zu 0 demontiert. Dabei bewegt er in filigraner Geschwindigkeit und virtuoser Leichtigkeit die diversen Tasten und Knöpfen des Spielgeräts, die man ihm gar nicht zutrauen würde, wenn man ihn mal beobachtet hat, wie er versucht, ein Hemd zuzuknöpfen. Mit einem gönnerhaften „Siehst du, so schwer ist das gar nicht“, beendet der Sohn meine Nachhilfestunde. Ich bedanke mich demütigst.

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Die Freundin bekämpft in der Zwischenzeit die Langeweile, indem sie mit dem neuen Zauberwürfel der Tochter spielt, den diese zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. Sie hat die Zungenspitze zwischen den Zähnen eingeklemmt und dreht mit höchster Konzentration aber ohne für Außenstehende erkennbares System an den Scheiben des Würfels. Als sie es nach einer gefühlten Ewigkeit endlich schafft, wenigstens eine farbige Seite wieder vollständig herzustellen, reckt sie jubelnd die Faust in die Höhe.

Zur Belohnung gönnen wir uns eine Tafel Weihnachtsschokolade. Die Mitreisenden schauen mit einer Mischung aus Fremdscham und Mitleid zu uns hinüber. Wahrscheinlich denken sie, es handelt sich bei unserer Familie um ein Sozialexperiment, bei dem die bedauernswerten Kinder für ihre augenscheinlich minderbemittelten Eltern zu sorgen haben.

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Kommen schließlich im Frankfurter Hauptbahnhof an, wo wir in den Anschlusszug umsteigen müssen. Entgegen jeglicher Bahnklischees sind beide Züge pünktlich, alles klappt erfreulich problemlos und unser neuer Waggon ist sogar paradiesisch leer.

Kurz bevor der Zug losfährt, betritt allerdings eine zwölfköpfige Familie, die sich über drei bis vier Generationen erstreckt, den Wagen. Selbstverständlich liegen ihre Plätze direkt neben den unsrigen. Euphemistisch könnten die zu der Sippe gehörigen sechs Kinder als lebhaft bezeichnet werden. Dies wäre aber allenfalls die politische korrekte Beschreibung für ihre sozial abnormen Verhaltensauffälligkeiten (wahrscheinlich sind sie alle hochbegabt und die Zugfahrt unterfordert sie).

Nach knapp 20 Minuten, in denen die Gören Fangen, Wettlaufen und Boxen spielen und sich gegenseitig ihre Weihnachtsspielsachen wahlweise auf den Kopf oder ins Gesicht hauen, wäre ich bereit, dass sprichwörtliche Königreich gegen eine Maxi-Packung Ritalin einzutauschen. Esse stattdessen zur Beruhigung ein paar Dominosteine. Glücklicherweise kommen wir kurze Zeit später unserem Zielbahnhof an, wo uns mein Vater abholt.

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Nachdem das Gepäck im Kofferraum verstaut ist, fahren wir los. Schnell will mein Vater seine neue Andreas-Gabalier-CD aus dem Player entfernen. Erkläre ihm jedoch großspurig, dass er sie ruhig abspielen könne, da ich über einen sehr toleranten Musikgeschmack verfüge. Stelle nach drei Liedern fest, dass die Toleranz meines Musikgeschmacks doch seine Grenzen hat. Überlege kurz, mir unauffällig Marzipankartoffeln in die Ohren zu stopfen, aber da erreichen wir schon das Haus meiner Eltern.

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An der Tür begrüßt uns meine Mutter. Noch während wir unsere Jacken und Schuhe ausziehen, erklärt sie freudestrahlend, heute Abend gäbe es unser Lieblingsgericht: Schinkenklöße. Und damit wir bis dahin keinen Hunger leiden müssten, gäbe es gleich erstmal Stollen und Weihnachtsplätzchen. Und da wussten wir, ab jetzt können die nächsten Tage nur noch gut werden. Und sie wurden gut!


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