Eine Stadt unter der Hitzeglocke

Trinkbrunnen in der Wiener Brunnengasse.

Trinkbrunnen in der Wiener Brunnengasse.

So heiß war es noch sel­ten in Öster­reich. Seit vier Tagen Temperaturen von bis zu 39 Grad. Auch die in bei­den Wochen davor hatte es tags­über kaum je unter 30. Einige Eindrücke aus Wien, einer Stadt unter der Hitzeglocke.

Die Menschen ste­hen Schlange vor dem Brunnen am Platz vor der Hofer-Filiale (so heißt Aldi in Öster­reich, Anm.) am Wiener Brunnenmarkt. Eine Mutter hält den Hebel für die Pumpe geöff­net, das kühle Wasser strömt her­aus. Die Tocher, viel­leicht acht, macht sich die Haare nass, lacht und trinkt ein paar Schluck. Die Mutter füllt eine Plastikflasche. Als sie voll ist, hält sie den Hebel so lange, bis ihn jemand ande­rer über­neh­men kann. Das Wasser soll keine Sekunde ver­sie­gen. Kinder oder Erwachsene, sie alle dürs­ten danach, im wahrs­ten Sinn des Wortes. Halten den Kopf unter den Hand, lee­ren sich Wasser auf Unterarme, Nacken, küh­len sich die Stirn.

Hier muss der belieb­teste Platz in die­sem Teil von Ottakring sein. Es ist ein bun­tes Gemisch, das sich an die­sem kos­ten­lo­sen Brunnen erfreut – eine Einrichtung der Bezirksverwaltung Ottakring, übri­gens. Die Genießenden stel­len einen guten Querschnitt der Bezirksbevölkerung dar. Migranten vom Balkan, aus der Türkei, mal mit, mal ohne Kopftuch, Hiesige in zwei­ter oder 25. Generation. Die “Integrationsschwierigkeiten”, die Teile der hei­mi­schen Innenpolitik gerne hoch­spie­len, spie­len keine Rolle. Dass mög­li­che oder ange­nom­mene, jeden­falls stän­dig behaup­tete, Sprachdefizite Zugewanderter stö­rend sein könn­ten, kann man nicht beob­ach­ten. Ein Lächeln und eine ein­la­dende Geste rei­chen aus, um sich zu ver­stän­di­gen: Komm, das Wasser ist kühl. Man darf ver­mu­ten, bei den Brunnen wei­ter oben am Markt geht es ähn­lich zu.

Außerdem, wer denkt bei gut 40 Grad in der Sonne an gehalt­volle Unterhaltungen?

Weniger hat es bestimmt nicht am Brunnenmarkt. Die strah­lende Sonne heizt seit Tagen den Asphalt, die Dekorsteine, die Hausmauern der Brunnengasse auf. Die Marktstände spen­den nur wenig Schatten. Auch die Häuser nur sehr bedingt. Urlaubszeit hin, Hitze her, an die­sem Samstagnachmittag wäl­zen sich tau­sende durch die­sen Markt. Hier zu arbei­ten muss eine Qual sein. Außer viel­leicht beim Fischstand. Der ist gut gekühlt.

Ein Mann kol­la­biert

Ein paar Stunden spä­ter, es ist gerade dun­kel gewor­den, liegt ein Mann am Gehsteig der Thaliastraße im glei­chen Bezirk. Es ist nur wenige hun­dert Meter vom ers­ten Schauplatz ent­fernt. Ich frage ihn, ob alles in Ordnung ist. “Bitte rufen Sie die Rettung, ich habe einen Kreislaufkollaps”, sagt er. Menschen gehen acht­los vor­bei. Ich wähle den Notruf. “Ich habe schon ange­ru­fen”, sagt plötz­lich ein jun­ger Mann, der vor einem Kebap-Lokal zwei Meter dane­ben sitzt. “Sie haben gesagt, sie kom­men.” Der Kellner bringt den am Boden lie­gen­den ein Glas Wasser. Der lehnt ab. Ein jun­ges Paar kommt dazu. Er kniet sich neben den unge­pflegt wir­ken­den Liegenden, redet freund­lich auf ihn ein. In Rücksprache mit dem Lokalgast betä­tige ich sicher­heits­hal­ber ein wei­te­res Mal den Notruf. Man weiß ja nie.

Der am Boden lie­gende muss jen­seits der 50 sein. Ein genaue­rer Blick bestä­tigt mei­nen ers­ten Eindruck, dass er wahr­schein­lich obdach­los ist. Auf einer sei­ner Waden eine schlecht ver­hei­lende Wunde. Nicht tief auf den ers­ten Blick, wahr­schein­lich ein ober­fläch­li­cher Schnitt. Seine Füße ste­cken in Sandalen und sind ver­dreckt. Am Oberkörper trägt der Bärtige meh­rere Schichten Bekleidung. Ein Umstand, denke ich, der sei­nen Kollaps mit­be­güns­tigt haben könnte. Kalte Winter und Hitzewellen sind beide gefähr­lich für Obdachlose.

Der Mann am Boden ist geis­tes­ge­gen­wär­tig genug, ein Gedicht auf­zu­sa­gen, wenn auch mit schwa­cher Stimme. Es scheint ihm Spaß zu machen. Musiker sei er, sagt er zu dem Mann, der vor ihm hockt. Er habe ein Medikament abge­setzt, das sei für sei­nen Kollaps ver­ant­wort­lich.

Eie wei­tere junge Frau erkun­digt sich besorgt, ob schon jemand die Rettung ver­stän­digt habe. Als ich das bejahe, fragt sie, ob sie sicher­heits­hal­ber mit­war­ten solle. Keine halbe Minute spä­ter steigt ein wei­te­rer Mann mit ver­ächt­li­chem Blick bei­nahe über den Kollabierten. Wir sehen uns um, wo die Rettung bleibt.

“Der wird uns alle über­le­ben”

Die Sanitäter und der Notarzt gehen es gelas­sen an, als sie sehen, wer am Boden liegt. “Martin, wie oft warst denn heute schon im Spital”, fragt ihn einer. Sie heben ihn auf die Krankenbahre und ver­frach­ten ihn in den Wagen. Es erscheint eine sichere Annahme, dass er Dauerkunde der Rettung ist. Bei jeman­dem, der keine Wohnung hat, auch keine große Über­ra­schung. Die Wahrscheinlichkeit, hin­zu­fal­len und sich zu ver­let­zen oder zu kol­la­bie­ren, ist bei jeman­dem, der dau­ernd auf der Straße lebt, um ein Vielfaches höher als beim Rest der Bevölkerung. Das eini­ger­ma­ßen trag­fä­hige Netz an Obdachlosenbetreuungsstellen in Wien kann das auch nur bedingt ändern. Manche lang­jäh­rige Obdachlose, heißt es, ver­zich­ten bei erträg­li­chen Außentemperaturen gerne auf Betreuungsstellen. Draußen gibt es weni­ger Regeln als drin­nen.

Ob das mit Martin wie­der werde, fragt der junge Mann, der ihm gehol­fen hat, das Warten auf die Rettung zu über­brü­cken. “Der über­lebt uns alle”, sagt ein Sanitäter.

Wir Helfer haben in gewis­ser Weise alle Migrationshintergrund. Der junge Mann kommt aus dem Wiener Bezirk Floridsdorf und wohnt seit zehn Jahren in Ottakring. Der erste, der die Rettung geru­fen hat, ist gebür­ti­ger Wiener mit tür­ki­schen Eltern. Der Autor die­ser Zeilen wurde in der Steiermark gebo­ren, wuchs in Oberösterreich auf und lebt seit bald 16 Jahren in Wien.

Die Strände sind voll

Die Strände ent­lang der Neuen Donau sind am Sonntag voll. Ich bin um halb zehn Vormittags dort und es dau­ert fünf­ein­halb Kilometer, bis sich ein unbe­völ­ker­ter Strandabschnitt fin­det. Weniger wer­den es im Lauf der nächs­ten Stunden nicht. Auf bei­den Seiten des Strandes haben Badewillige Zelte auf­ge­baut. Nur Grillen geht nicht. Das hat das Magistrat wegen der Hitze ver­bo­ten. Der Wald auf der Donauinsel könnte abbren­nen. Die Sorge um die Brandgefahr hält die Wienerinnen und Wiener glück­li­cher­weise nicht davon ab, im Fluss Abkühlung zu suchen. Kinder und Hunde haben wenig über­ra­schend den meis­ten Spaß. Der mobile Eisverkäufer muss das Geschäft sei­nes Lebens machen.

Zwischen der Wehr und dem Segelhafen gibt es eine kleine Halbinsel. Der Damm auf ihr ist mit Granitsteinen befes­tigt, dazwi­schen ragen ein paar Büsche her­vor. Hier fin­det man die Sonnenanbeter. Ein Wiener um die 50, bereits braun gebrannt, liegt in der Badehose am Scheitel des Dammes und sonnt sich. Für ihn, erzählt er mir, sei das nor­mal. Er arbei­tet am Bau und den Wiener ver­bringt er in der Karibik. (Ich führe die Unterhaltung vom Ufergebüsch aus, wo es deut­lich küh­ler ist als dort oben). Neben ihm liegt ein nack­ter Mann, der wenig redet und ab und zu ins Wasser springt. Eigentlich wäre der FKK-Strand auf der gegen­über­lie­gen­den Uferseite, direkt auf der Donauinsel. Hier stört’s nie­man­den.

Wahrscheinlich hat auch der Mitarbeiter eines pri­va­ten Sicherheitsunternehmens andere Sorgen, der jen­seits der Halbinsel am Damm, ober­halb des Strandes, hin- und her­fährt. Er darf Menschen auf­merk­sam machen, wenn sie gegen eine Vorschrift ver­sto­ßen. So ent­las­tet er die Polizei. Unternehmen darf er – glück­li­cher­weise – nichts. Das käme ihm im Moment auch nicht in den Sinn. Nach meh­re­ren Runden Patrouille hat er sei­nen Kleinwagen auf der Seite abge­stellt. Der Motor läuft wei­ter, der Klimaanlage wegen. Wer nicht direkt am Wasser sein kann, benei­det ihn.

Die Wiener Freibäder mel­den am Abend, so viele Badegäste wie an die­sem Tag habe es nie zuvor gege­ben. Die Rede ist von mehr als 100.000. In den Krankenhäuser häu­fen sich die Hitzeopfer. Leid und Freud lie­gen eng bei­ein­an­der in Wien.


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