Das Handy lag dort im Zugsabteil und niemand hatte es bemerkt, denn die Leute waren alle viel zu beschäftigt und zudem beeilten sie sich heimzukommen.
Als der Zug leer war, ging der Schaffner noch durch die Wagen, aber auch er sah das Handy nicht, ebenso wenig der Mann im orangen Overall, der die Tageszeitungen zusammensammelte.
Der Besitzer des Handys wiederum erkannte seinen Verlust bereits wenige Minuten nach Verlassen des Bahnhofs. Er eilte zurück, aber da heutzutage die Züge nie mehr länger als 120 Sekunden auf einem Bahnhofperron stehen dürfen, war er schon weg. Der Mann war absolut verzweifelt, denn das Handy war für ihn wie das Ohr zur Welt, wie sein Mund, wie die Hand zu den Mitmenschen oder wie das Auge, das sich auf die Andern richtet. Er war so verzweifelt über den Verlust seiner Sinnesorgane, dass er innert weniger Stunden vereinsamte und bereits am nächsten Morgen ob der Isolation den Verstand verloren hatte, und in eine Klinik eingeliefert werden musste.
Das Handy indes lag im Zugabteil, und am nächsten Morgen um sechs Uhr – der Zug war schon wieder unterwegs mit Pendlern - am nächsten Morgen um sechs Uhr klingelte es gemäss seinem eingebauten und programmierten Wecker, und der Fahrgast dort wuselte zuerst sein eigenes Handy raus. Da dieses aber nicht der Verursacher des Gedudels war, und die Mitreisenden bereits vorwurfsvoll zu ihm hinblickten, blickte er verzweifelt um sich und sah dort so unscheinbar das fremde Gerätchen. Er stellte es schnell ab und steckte es diskret in seine Jackentasche, denn es war ein viel moderneres Modell als sein eigenes.
Der Mann arbeitete als Verkäufer in einem kleinen Bahnhofskiosk. Als er angekommen war, öffnete er die schweren Rollläden von seinem Kiosk und räumte die neuen Zeitschriften ein, die eingetroffen waren. Dann wartete er auf Kundschaft. Bis kurz vor neun Uhr kam ab und zu noch jemand vorbei, wollte Zigaretten oder die Tageszeitung, aber dann wurde es sehr Ruhig. Das war immer so.
Punkt neun Uhr pipste es zwei mal in seiner Tasche. Nun erinnerte er sich an das neue Handy und zog es heraus. „Sitzung beginnt in 15 Minuten“ stand auf dem Display. Und: „Fünf verpasste Anrufe.“ Ja, es waren auch bereits zahlreiche SMS eingetroffen, aber das Gerät war offenbar so eingestellt, dass es einen nicht mit Nachrichten stören solle. Unser Verkäufer drückte Hochkonzentriert auf Menu, auf Einstellungen, auf Einrichten, auf System usw. und er veränderte wohl jede mögliche Einstellung. Das hatte aber auch seinen Preis. Es klingelte dauernd.
Um 9:20 rief einer an, und fragte, warum er noch nicht in der Sitzung war (er erklärte es kurz). Um 9:35 rief eine nette Frau an, und verabredete sich mit ihm zum Abendessen. Um 9:42 hatte er ein längeres Gespräch (7Minuten und 37 Sekunden) in dem er einen verärgerten Kunden souverän beruhigte. Um 10:04 nahm er zur Kenntnis, dass sein Wagen nun abholbereit war. Ein Kollege rief an, wegen dem Squash Training usw.
Nun, die Welt unseres stillen und eigentlich sehr zurückgezogen lebenden Kioskmitarbeiters begann sich zu vergrössern. Bereits am zweiten Tag musste er sich eine Agenda anschaffen, um den Überblick zu behalten. Sein Freundeskreis vergrösserte sich zusehends und er wurde selber auch immer offener und umgänglicher. Mit der Zeit war er weit herum bekannt und beliebt, hatte nette Damenbekanntschaften, war ein guter Kumpel im Squash Verein, freute sich an seinem neuen Auto usw.
Komisch eigentlich, dass keiner wirklich gemerkt hatte, dass er eine andere Person war. Am Schluss war sogar er selbst nicht mehr ganz sicher, wer er nun wirklich sei.
Vielleicht wird das dann so sein, wenn es in der Chirurgie möglich sein wird, den Kopf eines Menschen zu transplantieren. Bin ich dann der Andere - oder wird der Andere zu mir? Sind wir nicht sowieso schon alle gleich, und wenn wir gleich sind, dann sind wir wohl auch dasselbe.
Bilder: Siebdruck Serie 2005 / Fotografie einer Sonnenblume gerastert und in zahlreichen Farbvarianten gedruckt.
Natürlich freue ich mich immer besonders über das Teilen, aber
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