Eine erzwungene Emanzipation

1914 im Fokus des Theaters

Im Gedenkjahr an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird rund um den Globus, vor allem im künstlerischen Bereich, ein Augenmerk auf die Zeit um 1914 gelegt. Die österreichische Kulturszene nimmt sich des Datums verständlicherweise besonders an. Jede größere Bühne mit guter dramaturgischer Betreuung bringt zumindest eine Produktion, die das Thema beleuchtet. Die Salzburger Festspiele – jene Institution, welche neben dem Burgtheater mit der wohl größten Außenwirkung aufwartet – hat in diesem Jahr ebenfalls diesen Schwerpunkt im Schauspielerischen gewählt. In Wien wurde schon zu Beginn des Jahres in einer fünfteiligen Serie im Schauspielhaus das Thema 1914 und seine Folgen intensiv beleuchtet. Das Volkstheater fokussierte auf „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus und im Theater Spielraum in der Kaiserstraße läuft derzeit ein ganz besonderes Projekt: „Welten von Gestern“ mit dem Untertitel „Menschenbilder aus dem Großen Krieg“ von Stefan Zweig. Das Drama wurde von Nicole Metzger aus unterschiedlichen literarischen Versatzstücken Zweigs für die Bühne adaptiert. Dabei griff sie auf seinen Romantorso „Clarissa“ zurück, in welchem er die Zeit zwischen 1902 und den 30er Jahren aus der Sicht einer Frau beleuchten wollte. Zur Ausführung gelangte jedoch hauptsächlich die Zeit um den Ersten Weltkrieg. Metzger ergänzte geschickt dieses, erst posthum veröffentlichte Werk, mit Auszügen aus den Erzählungen „Der Zwang“ und „Episode am Genfer See“ und ließ auch den Autor selbst mit Zitaten aus seiner Biografie „Die Welt von Gestern“ zu Wort kommen. Daraus ergab sich der intelligent gewählte Titel „Welten von Gestern“, der nur von Kennern der Zweig-Biografie auf Anhieb dechiffriert werden kann.

Eine erzwungene Emanzipation Eine erzwungene Emanzipation Eine erzwungene Emanzipation

“Welten von Gestern” ist im Moment im Theater Spielraum zu sehen (Fotos: Barbara Palffy)

Die Menschenseelen bei Stefan Zweig

Entstanden ist ein dichtes Geflecht aus vielerlei Menschenseelen, die in unterschiedlichster Art und Weise mit dem Krieg konfrontiert wurden. Entstanden ist aber auch das Lebensbild einer Frau, die durch den Krieg unfreiwillig eine emanzipatorische Entwicklung erlebte. Clarissa beginnt mit den Erinnerungen in ihrer Kindheit, die von einem autoritären Vater geprägt war, und taucht abermals ein in das Gefühl ihrer ersten und einzigen großen Liebe mit Léonard, einem Franzosen, den sie auf einem Schweizer Kongress kennenlernte. Der Sommer 1914 wurde für sie in doppelter Hinsicht zum Schicksalssommer. Die Ermordung des Thronfolgerpaares in Sarajewo erfährt sie noch am Abschlussabend des Kongresses selbst. Von den anschließenden Kriegserklärungen sowie der Mobilmachung in Frankreich erfährt sie auf ihrer Reise rund um den Lago Maggiore, die sie mit ihrem Geliebten unternommen hatte. „Grüezi aus der Schweiz“ ist dabei im Hintergrund von einer projizierten Postkartenidylle zu lesen, in welcher die Welt noch heil und unbeschwert zu sein schien. Dass Clarissa in diesem unheilbringenden Sommer auch schwanger wurde, besiegelt ihr weiteres Schicksal. Aus Kriegsräson von ihrem Geliebten getrennt, erleidet sie das gleiche Los wie Millionen anderer Frauen auch. Plötzlich auf sich alleine gestellt, mussten sie sich selbst um ihr Einkommen kümmern und – wie in ihrem Fall – Dienst in einem Spital verrichten. Unter die Haut geht dabei jene Szene, in welcher sie staccatoartig mit einem Arzt die grauenhaften Spitalszustände beschreibt, auf die niemand vorbereitet war. Hart ertönen dazu im Hintergrund ohne Unterlass hörbar gewordene Schicksalsschläge.

Kriegseuphorie und das ewige Warten

Metzger schiebt zwischen den Handlungsstrang immer wieder in dämonisch rotes Licht getauchte Traumsequenzen, in welchen die Zwänge und die Nöte der Soldaten deutlich werden, die sich dem Krieg nicht entziehen können. So evozieren in einer Szene Peter Buchta, Matthias Messner und Peter Pausz mit einer Stampfkanonade eindrucksvoll jene Soldatenmassen, die völlig dem Willen der Kriegstreiber ausgeliefert waren und ihr Leben für Volk und Vaterland einsetzen mussten. Clarissa gelingt es jedoch nur in ihrem Traum gegen die Obrigkeit aufzutreten und eine wahre Tirade gegen den Krieg anzustimmen. In der Realität werden noch einige Jahrzehnte vergehen müssen, um den Traum vom Frieden in Europa Wirklichkeit werden zu lassen. Buchta in der Rolle Eduards verabschiedete sich von seiner Schwester Clarissa beinahe freudig an die Front in der Annahme, dass der Krieg bis spätestens Weihnachten gewonnen sein würde. Sein Enthusiasmus steht als Sinnbild für jene Hunderttausende, die mit Blumenkränzen geschmückt frohlockend und unwissend in eine grauenvolle Zukunft einrückten. Matthias Messner, zu Beginn als Léonard glückselig seine junge Liebe genießend, berührt an anderer Stelle als russischer Soldat auf Knien rutschend mit seiner permanenten Frage, ob er denn nicht nach Hause könne. An seiner Person wird besonders klar, wie absurd der Krieg auf einfache Menschen wirkt, die nicht das geringste Verständnis für kriegerische Handlungen aufbringen können, sondern deren ausschließliches Trachten dem Wohlergehen ihrer Familie gewidmet ist. Das als unendlich empfundene Warten auf das Kriegsende, die Isolation in einem fremden Land, das Unverständnis der fremden Kultur und die nicht erhaltene Hilfestellung seitens der Bevölkerung – Faktoren, die jeder Krieg, aber auch Situationen von Emigranten in Not mit sich bringen – werden in dieser bedrückenden Szene überdeutlich. Klaus Uhlich interpretiert hingegen gänzlich antipodisch und altersweise Clarissas guten Helfer, Dr. Silberstein. Ein intellektueller Psychotherapeut, der auf der Höhe der Zeit die ideologiefreien reformpädagogischen Ansätze von Ellen Key und Maria Montessori preist und sich mit Freuds Theorien kritisch auseinandersetzt. Höchst interessant dabei ist, dass er auf die weibliche Linie der Reformpädagogik rekursiert und nicht auf jene von Rudolf Steiner, Anton Semjonowitsch Makarenko oder Peter Petersen, allesamt mit unterschiedlichen Ideologien behaftet. Er ist der Einzige, dessen Stimme sich permanent gegen den Krieg erhebt und der den Nationalismus als jenes Übel beim Namen nennt, das die Kriegstreiberei erst möglich machte. „Der verdammte Nationalismus verdirbt alles“. Wie rasch und unvermittelt sich hier unser Gegenwartsgefühl mit dem der Vergangenheit vermischt, ist beinahe angsteinflößend.

Die Sehnsucht nach einem kleinen Leben

Peter Pausz, der erst vor Kurzem als Regisseur im Theater Spielraum agierte, brilliert in seiner Rolle als Gottfried Brancoric. Einem simulierenden Soldaten, der die Kriegsgräuel nicht aushält und sich lieber mit Hilfe eines Brechmittels zu Tode hungert, als noch einmal an die Front zu müssen. Einfach toll, wie er sich vom kleinen Häufchen Elend in jenen hilfsbereiten Mann verwandelt, der Clarissa nicht ganz uneigennützig eine Kriegsnottrauung anbietet, um ihrem Kind einen Vater zu geben. Seine inneren Kämpfe, seine unbändige Angst – „Angst ist ein tausendfaches Sterben“ und seine Bitte nach nichts Anderem als „einem kleinen Leben“ zeigen, dass er, der als Feigling Abgestempelte, wesentlich mehr Realitätssinn hatte als seine Kameraden, die durch ihre Verdrängungsmechanismen ungeschützt, millionenfach direkt in den Tod liefen. In weiterer Folge ist es ebenfalls Brancoric, der als Schieber Clarissas Kind vor dem Hungertod rettet und zu guter Letzt als gebrochener Mann, aber zumindest körperlich unversehrt, zu ihr nach Hause kommt. Mehr als beeindruckend erkörpert die junge Samantha Steppan die Rolle der Clarissa. Bei ihr sitzt jede Geste und jede noch so kleine Mimik. Atemberaubend, wie sie mehrfach auf einem der in unterschiedlichen Ebenen angebrachten Podien (Bühne Harald Ruppert) so am Rand zu stehen kommt, dass ein minimaler Fehltritt ihr Abstürzen bedeuten würde. Eine der vielen kleinen, aber umso wirkungsvolleren bildlichen Metaphern welche die Inszenierung so unglaublich dicht erscheinen lassen. Clarissas Entwicklung vom jungen verliebten Mädchen hin zur desillusionierten Frau, die ihr Leben nicht nach ihren Vorstellungen, sondern nach ihr auferlegten Zwängen leben musste, macht auch deutlich, wie sehr sich politische Entscheidungen und soziale Gegebenheiten direkt auf Menschenschicksale auswirken.

Der Krieg als düsteres und dunkles Ereignis

Nicole Metzgers Inszenierung ist dicht, düster und dunkel, aber gerade dadurch auch bestechend, brillant und brisant. Sie komprimiert das Lebensgefühl einer verlorenen Generation, die sich noch nicht einmal bewusst ist, dass eine weitere Apokalypse noch auf sie zukommen wird. „Welten von Gestern“ zeigt jedoch, und das ist das Erschreckende schlechthin, dass sich kriegstreiberische Mechanismen, gestützt auf nationale Hetze, über die letzten hundert Jahre nicht verändert haben. Einzig die Rolle der Frau hat sich in den westlichen Hemisphären zumindest gewandelt. Von unemanzipierten menschlichen Wesen zweiter Klasse zu selbstbestimmten Frauen, die ihr Leben – wenngleich auch nach wie vor nicht immer – so gestalten können, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Erhellendes dazu ist im höchst informativen Programmheft nachzulesen, in dem vor allem die Rolle der Frau im Krieg besonders beleuchtet wird.

Fazit: Sehens- empfehlens- und nachdenkenswert!

Links:

Theater Spielraum


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