Eindrücke aus soetwas wie Heimat

Das Zwölftel eines Jahres verbringe ich nun dort, wo ich lebe: Hessen. Man genehmige mir, Eindrücke zu vermitteln. Versucht sinnvoll, keine Splitter, wie man sie in Tagebücher bohrt; es sollen Eindrücke sein, die ins Konzept passen. Heimat - etwas, ein Wort, eine Örtlich- oder Befindlichkeit, die mir wenig Konnotatives eindrückte. Heimat ist womöglich nicht mehr als der Ort, wo der eigene Kühlschrank steht. Wer damit zufrieden ist, kann überall heimatliche Bande weben. Soetwas wie Heimat, besser gesagt - wenn ich schon nicht weiß, was Heimat ohne den Zusatz von Soetwas ist. Soetwas wie Heimat: ein Surrogat für Heimat. Eindrücke also. Heute - und demnächst mehr. Unregelmäßig und subjektiv - ich habe nur meine Augen und Ohren zur Verfügung. Eindrücke aus soetwas wie Heimat - hin und wieder einige Zeilen zu dem mir Eingedrückten.
Wenn man das Anhaltinische und das Thüringische für die Stammlande der Reformation und die ehemaligen Städte und Gebiete der Hanse für die Ursprungsstätte des deutschen Frühkapitalismus hält, so kann das Hessische für das Stammland des neoliberalen Lebensentwurfes gelten. Diese Aussage hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, sie ist weder veri- noch falsifiziert - aber sie ist gut subjektiv und blendend auf meinem Mist gewachsen. Nicht, dass ich in Bayern eine heile Welt erlebt hätte. Nicht, dass dort keine neoliberalen Vorstellungen in bittere Wirklichkeit umgesetzt worden wären - aber so radikal sparsam, unmenschlich, profitorientiert und -maximiert wie das, was ich hier so sehe und erlebe, habe ich es dunnemals in Bayern kaum erlebt.

Dies fängt schon im Bildungssystem an, das als Grundessenz den Elternwillen postuliert. Die können ihren Spross auf höhere Schulen schicken, auch wenn der nur Fünfer schreibt. Das setzt manchen schlechteren Schüler unter Zugzwang. Die Hauptschulen sind demnach verwaist; manchmal so sehr, dass in kleineren Orten die Handvoll Hauptschüler in Realschulklassen integriert werden - ein Lehrer unterrichtet dann Real- wie Hauptschüler in einem Klassenzimmer nach zwei Lehrplänen. Natürlich gibt man sich außerhalb der Schulen hier sehr stolz, dass die Realschulen und Gymnasien jedermann offen stehen; und jemand aus Bayern darf sich dann anhören, wie rückständig das Schulwesen Bayerns sei, weil es dreigliedrig gestaltet ist und den Elternwillen durch Lehrerempfehlungen beschneidet. Die gibt es auch in Hessen, sind aber nur Makulatur. So wie die dreigliedrige Schule, die in Hessen nicht aufgewertet wird, sondern die Hauptschule als Sammelbecken für so genannte Bildungsverlierer behält. Theoretisch stehen so jedem die Gymnasiumspforten offen - es bleibt aber, wie fast überall in dieser Republik, eine Geldfrage, wohin man sein Kind schickt.
Chronisch unterfinanziert ist das hessische Bildungswesen ohnehin - Schulstunden fallen regelmäßig aus, werden hin und wieder aber durch ein Programm kompensiert, das Laien zu Aufsichtskräften in Schulklassen geraten läßt. Zwanzig Euro Schulstundenlohn gibt es dafür; manchmal sind es auch Lehramtsanwärter, die diese ehrenvolle, von der Regierung Koch initiierte Methode zur Stärkung der Zivilgesellschaft, übernehmen - sind es Lehramtsanwärter, hat die jeweilige Schule noch Glück; manchmal sind es hingegen xenophobe Fettsäcke mit Gemeinsinn oder frömmelnde Tanten, die einer Klasse vorsitzen. Wie der örtliche Schulleiter mir erzählte, plane man nun auch noch, behinderte Kinder zu integrieren. Körperliche ebenso wie geistige. Dagegen spricht ja gar nichts - es wäre sogar förderlich und würde beiden Seiten nicht schaden. Problem ist abermals jedoch, dass keine finanzielle Ausstattung hierfür geboten würde. Einfacher gesagt, die Lehrkraft hätte neben ihren Schülern auch noch mit den Tücken der Behinderung umzugehen - keine Hilfsstellung, keine zweite Lehrkraft im Raum, nicht mal eine Krankenstation ist geplant. Das ist neoliberale Umsetzung; man fordert und plant, setzt sogar um, schafft aber weder Mittel noch Strukturen, sondern winkt ab und meint: Macht mal, streckt euch, dann klappt es schon irgendwie.
Dieses Irgendwie, es ist das Zauberwort des Neoliberalismus. Irgendwie lebt man auch mit weniger Geld; irgendwie kompensiert man auch die Mehrbelastungen; irgendwie arrangiert man sich schon mit der Verschlechterung der Zustände, irgendwie geht es schon. Falls es nicht klappt, dann hat man das richtige Irgendwie nur noch nicht gefunden. Der Neoliberalismus tröstet seine Opfer mit einem anhaltenden Irgendwie, das kenntlich machen soll, dass ein modus vivendi noch gefunden wird, wenn man nur optimistisch, zuversichtlich, pragmatisch genug ist.
Ich glaube, ich liege auch falsch, wenn ich Hessen als Stammlande des Neoliberalismus bezeichne. Wahrscheinlich muß ich es auf den Raum Rhein-Neckar herunterbrechen - bis zum sich windenden Main hinauf. Dort ist die Enge des Neoliberalismus spürbar. Eine infrastrukturelle Enge, eine Enge, die die berühmte moralisch-geistige Wende skizziert. Dort ringelt sich alles in Flexibilität und Mobilität, viel Pendlerverkehr verstopft Straßen, Gleise und Fluglinien. Das ist ja nicht verwerflich, gependelt wird überall. Bezeichnend ist eher die hessische Ignoranz gegen diese Verstopfung. Natürlich gibt es auch hier Stimmen, die diesen Wahn kritisieren - aber dass es nun mal Flug- und Bahnlärm gibt, könne nicht verändert werden, hört man hier oft. Gegen den Fortschritt könne man sich nicht stellen. Als sei das Fortschritt, wenn es einem den Kochkäs' vom Schnitzel heruntervibriert. Modernisierungopfer nennt der neoliberale Irrsinn solche Leute. Kollateralschäden der technologisierten Gesellschaft, für die kein Gedenkstein errichtet wird. Hin und wieder berichten Radiostationen im neutralen Ton darüber, dass man die Villa Roland Kochs mit Lärm beschallt - zehn Minuten habe er auch gewährt, was man wie eine Art Gnadenakt verkündigt. Ach kritischer Geist, hessisch bist du nicht...
Aber gut, ich sagte ja, es geht nicht um Hessen. Hessen ist ein künstliches Gebilde. Und die Gegend bis Mannheim hinab, Baden-Württemberg also, das ja ums Eck' liegt, zähle ich zu diesen Stammlanden durchaus hinzu. Hessen ist ja historisch betrachtet keine Einheit. Was sich im Umgang des offiziellen Hessen mit seiner selbst bemerkbar macht - möglich, dass ich bald darüber schreibe; über das Hessenbild, das fröhlich verbreitet und die Zusammengehörigkeit, die künstlich befeuchtet wird. Bis dahin bleibt die Frage, ob dieses historische Vakuum, dazu der Umstand, dass man in Hessen schön protestantisch beschult wurde, fruchtbarer Boden für den Neoliberalismus war - oder erwächst er gar aus diesen Prämissen, quasi ganz Max Weber? Und ist der offenbare neoliberale way of life, den man hier ungenierter lebt, dafür verantwortlich, dass man händeringend und haareraufend Prämissen sucht?
Obgleich es nicht alleine an soziologischen oder historischen Erklärungen zu diesem Bundesland liegen kann. Diese gesamte Sparpolitik, auf die ich hier ganz sicher irgendwann noch zu sprechen kommen werde, und dieses unschön durchdrungene NeoLib-Weltverständnis, wird von einer hessischen Landesregierung mitsamt Partei beatmet. Auch daran liegt es! Der hessische Arm der Union ist ja berühmt für kleinbürgerliche Affekte und großindustrielles Entgegenkommen, für niederträchtige Schwarzkoffer- und hochfinanzielle Mauschelpolitik. Koch, der jetzt als Bouffier durch die Lande tingelt, ist der klischeehafte Bappkopp des hessischen Konservativen - es braucht ihn aber gar nicht, damit alles so eingekocht bleibt, wie es damals war. Und konservativ ist an ihm nichts, er wollte nicht erhalten, er wollte im Sinne der ihn einlullenden Lobbygruppen verändern. Natürlich liegt es auch sehr an der landesörtlichen Union, dass Hessen ein neoliberales Jammertal ist. Die hat für die Wirtschaft ein vollschichtig einsatzbereites Parlament geschaffen - für die Bevölkerung läuft diese Veranstaltung nur noch auf Teilzeitbasis. Das ist aber aus neoliberaler Sicht logisch und schlüssig. Denn liest man der Wirtschaft alle Wünschen aus der Iris, so verwendet sie ihre Blüte dazu, die Menschen mit gut dotierten Arbeitsplätzen und Sicherheiten zu beglücken - Allgemeinwohl ist, wenn Partikularinteressen durchgesetzt werden, weiß der BWL-geschulte Freizeit-Volkswirtschaftler genau. Die Politik will über das Allgemeinwohl nicht wissen, wenn man sie fragt, meint sie, es gehe den Menschen allgemein wohl ganz gut - nichts Genaues weiß man nicht: so definiert sich in neoliberalen Stammlanden das Allgemeinwohl.
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