Der eventuell letzte Kriegsgefangene in Russland wird im Jahr Zweitausend, überraschend in der Psychiatrie eines kleinen sibirischen Städtchens entdeckt.
Er ist Ungar, lebt seit 53 Jahren in der Psychiatrie in Kotelnitsch und spricht trotzdem nahezu ausschließlich ungarisch. Dieser alte, etwas verwirrte Mann kann sich an seine Herkunft nur bruchstückhaft erinnern. Sein Name Andras Tomas ist ihm fremd. „Tomas“ wird in seine Heimat Ungarn zurückgeführt. Ein medial wirksames Ereignis.
Emmanuel Carrère nimmt diese Geschichte als Anlass, seinen Protagonisten, einen Pariser Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher, auf eigene Spurensuche zu schicken. Er lässt ihn einen Dokumentarfilm in Kotelnitsch drehen. Ein rein beobachtender dokumentarischer Blick auf den Alltag dieses Städtchen der Vergessenen. Eine irrwitzige und melancholische Reise ins postsowjetische Provinzdasein.
Emmanuel Carrères Bezug zu der Geschichte des Andras Tomas, ist sein Großvater. Dieser war ein georgischer Immigrant, lebte in Paris und kollaborierte später mit den Nazis. Im Jahr 1943 wurde er von der Résistance verschleppt und gilt seit dem als verschollen. Eine Angelegenheit über die im Familienkreis geschwiegen wird.
Ebenso wie der Suche nach den eigenen Wurzeln, denen er ausgerechnet in der Ödnis Kotelnitsch auf die Spur zu kommen sucht, räumt Carrère der Beziehung zu seiner Freundin Sophie einen weiträumigen Platz ein. Eine ziemlich narzisstische Nabelschau, vermischt mit erotischen Phantasien, Exhibitionismus und Kontrollzwang. Selbstbespiegelung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Leider ziemlich anstrengend, fand ich. Geschrieben aus der Sicht eines übersättigten, überaus neurotischen Ichs. Ich habe versucht diesem „russischen Roman“ etwas abzugewinnen. Einige Wochen zuvor hatte ich von Carrère das Buch „Das Reich Gottes “ gelesen und es geradezu verschlungen. „Ein russischer Roman“, machte mich jedoch ärgerlich und ungeduldig. Kann sein, dass mir der Kniff des doppelten Ichs entging, der neue Erzählräume öffnet. Vielleicht war es auch so, dass ich als Leser dieser Introspektive nicht gewachsen war. Übrig blieb der Eindruck eines äußerst subjektiv eingefärbten Blickwinkels egal wo „Emmanuel“ sich gerade aufhielt. Eine Autofiktion, in der der Protagonist offenbar nur eingeschränkt in der Lage zu sein schien, zwischen sich und der Welt zu unterscheiden.
Trotz allem lohnt es sich Carrère zu lesen. Er ist ein großartiger Erzähler.
„Die französische Originalausgabe erschien 2008 bei P.O L.
2017 erschien es im Verlag Matthes & Seitz Berlin , übersetzt von Claudia Hamm
2019 erschien es als Taschenbuchausgabe in der Verlagsgruppe Randomhouse.
Ich danke der Verlagsgruppe Randomhouse für das Rezensionsexemplar