Ein paar hundert Mark

DER MENSCH. DAS EINZIGE SÄUGETIER, DAS UM DES EIGENEN VORTEILS WEGEN SEINE HERDE ZERSTÖRT.
(Vincent Deeg)
Mehr als zwanzig Jahre war es nun schon her, als sich Michaelas Familie damals dazu entschloss, über die grüne Grenze* in den Westen zu fliehen. Als ihr Vater, an dem Tag, an dem es endlich los gehen sollte, spurlos verschwand und sie und ihre Mutter von den Männern der Staatssicherheit verhaftet wurden.
*
Michaela erinnerte sich noch genau an diesen Tag. Dem 17. Mai 1987. Ein Sonntag, an dem man normaler Weise, sofern man gläubig war, in die Kirche ging, um für das eigene oder das eines anderen Seelenheil zu beten oder an dem man mit seiner Familie einen Spaziergang durch den Park machte oder einfach nur zuhause blieb, um sich dort den Sonntagsbraten schmecken und vom Programm des DDR Fernsehens berieseln zu lassen.
Dinge, von denen Michaelas Familie damals mehr als weit entfernt war. Sie ging nicht in die Kirche, machte keinen Spaziergang im Park und ein Braten stand auch nicht auf dem Herd, den man sich während einer Sendung im DDR Fernsehen hätte schmecken lassen können. Nein. Bei der Familie Petzold lief dieser Sonntag ganz anders ab.
*
„Packt bitte nur das nötigste ein. Wenn wir drüben sind, kaufen wir uns alles neu.“ Hatte Michaelas Vater noch mit betont leiser Stimme zu ihr und ihrer Mutter gesagt. Kurz bevor er, um noch ein paar, für ihre Flucht wichtige Dinge zu erledigen, die Wohnung verließ.
Natürlich hatte keine der beiden Frauen eine Ahnung, was für Dinge das sein konnten, die es, so kurz vor ihrer Flucht noch zu erledigen galt. Doch da sowohl Michaela ihrem Vater, als auch ihre Mutter ihrem Mann vertrauten, dachten sie nicht weiter darüber nach und packten stattdessen weiter an ihren Taschen.
Doch was wäre geschehen, wenn sich die arglosen Frauen nicht ihrem blinden Vertrauen hin gegeben hätten? Wenn sie sich gefragt hätten, was es an einem Sonntagnachmittag, der zufälligerweise auch noch der war, an dem die Familie zu ihrer lange geplanten Flucht aufbrechen wollten geben konnte, um das man sich noch so dringend kümmern muss. Ein Tag, dessen wochenlange Vorbereitungszeit genug Gelegenheit gegeben hatte, sämtliche Erledigungen hinter sich zu bringen.
Vielleicht wären Michaela und ihre Mutter mit den richtigen Fragen irgendwann dahinter gekommen, dass da irgendetwas nicht stimmten konnte. Doch Hand aufs Herz. Welche Tochter würde ihrem eigenen Vater, welche Frau würde ihrem Ehemann zutrauen, dass der sie verriet? Ein Gedanke, der weder Michaela, noch ihrer Mutter nur für eine Sekunde in den Sinn kam.
Der Grund, der die zwei Frauen, zwar nicht mit Seelenruhe aber doch voller Vertrauen bis zum späten Abend in der Wohnung auf die Rückkehr des längst überfällige Vaters und Ehemannes warten ließ. Dort, wo sie die Männer der Staatssicherheit, die ohne Klingeln oder Klopfen in die Wohnung eingedrungen waren mit gepackten Taschen fanden. Wo man sie mit brutaler Gewalt fesselte und schlug.
*
Fast scheint es, als wäre es erst gestern gewesen. So genau erinnert sich Michaela noch heute an diesen furchtbaren Abend. An die Schläge und Beschimpfungen dieser grau gekleideten Männer. An die Gewalt, die man nicht nur während der Verhaftung, sondern auch während der darauf folgenden, Stunden lang dauernden und immer wieder von vorn beginnenden Verhöre hatte walten lassen.
Doch es sind nicht nur diese Erlebnisse, die schmerzvolle Zeit in der Stasihaft oder die qualvolle Zeit ihres fünfzehn Monate langen Gefängnisaufenthaltes, die sich Michaela für immer ins Gedächtnis gebrannt haben. Nein. Es ist auch das Gesicht, das sie an diesem Abend das letzte Mal sah. Das Gesicht ihrer geliebten Mutter, die sie damals, bevor man sie beide verschleppte noch einmal anlächelte und die ein halbes Jahr später, während ihrer eigenen Haftzeit an einer angeblichen Lungenentzündung starb.
Und ihr Vater? Es sollten viele Jahre vergehen, bis Michaela endlich erfuhr, warum und wohin dieser Mann damals verschwand und welchen Anteil er an dieser Tragödie hatte.
Erst ihre eigene Stasiakte und eine Menge Recherche machten es möglich, auf all diese
Fragen eine Antwort zu geben. Antworten, die eindeutig belegten, dass sie und ihre Mutter von dem Mann verraten wurden, dem sie einst vertrauten. Von einem Mann, dem ein paar hundert DDR Mark wichtiger waren, als die, die ihn fälschlicher Weise liebten.
**
Michaela hat heute keinen Kontakt zu ihrem Vater. Der Mann, der nicht nur ihre Jugend, sondern auch den Tot ihrer Mutter auf dem Gewissen hatte und der sich, wie sie durch Bekannte in Erfahrung bringen konnte, kaum, dass die Mauer gefallen war, ins Ausland absetzte.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
*Damalige Bezeichnung für die in der Regel von Natur geprägten Grenze, die das sozialistische Ausland (DDR, Tschechoslowakei und Ungarn) vom kapitalistischen Ausland (BRD und Österreich) trennte.

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