Aus dem kurzen Leben eines Schleusers

DAS LEBEN SOLLTE GLEICH EINEM REGENBOGEN LANG UND VOLLER FARBEN SEIN. WENN ES ABER NUR KURZ UND FARBLOS WAR, SOLLTE AN SEINEM ENDE WENIGSTENS EIN TOPF VOLL GOLDSTÜCKE STEHEN.
(Vincent Deeg)
„Na super. Was soll ich Trottel auch zuhause?“ Brummte Stefan schlecht gelaunt vor sich hin, während er den kleinen Lieferwagen über den inzwischen menschenleeren Parkplatz des Hamburger Elektronikdiscounters lenkte. Wie jeden Tag hatte er von morgens bis abends im Laden gestanden, Unmengen an Kartons hin und her gestapelt, viele Fernseher und Stereoanlagen an den Mann oder an die Frau gebracht und sich mit einer Menge an Kundenbeschwerde herum geschlagen. Ein Tag also, an dessen Ende man als Verkäufer froh sein konnte, diesen halbwegs heil überstanden zu haben. An dessen Abend man sich nur noch eines wünschte. Und zwar endlich in den wohl verdienten Feierabend gehen zu dürfen.
Doch davon war Stefan, als der Parkwächter die Schranke für ihn öffnete noch mehr als weit entfernt. Der Grund war die Lieferung eines Fernsehers, mit der ihn sein Chef, statt ihn, wie die anderen auch nach Haus zu schicken noch beauftragt hatte. Eine Lieferung für irgendeinen Kerl, da war sich Stefan sicher, war es doch nicht das erste Mal, der nicht auf einen Termin warten wollte, der zu faul war, das Gerät selbst abzuholen und dem es völlig egal war, ob ein anderer seiner Faulheit wegen auf seinen Feierabend verzichten musste.
Hätte Stefan gewusst, was an dieser Zieladresse tatsächlich auf ihn wartete, er hätte sich jeden Kommentar und jedes Murren verkniffen. Doch da er davon nichts ahnte, schimpfte und fluchte er bis zu seiner Ankunft munter und lautstark weiter.
*
„Ich bringe Ihren neuen Fernseher.“ Keuchte Stefan etwas außer Atem, als sich die Tür, der im vierten Stock liegenden Wohnung öffnete und sich eine männliche, beinahe lautlos
und in gebeugter Haltung bewegende Gestalt aus dem schwach beleuchteten Hintergrund des Wohnungsinneren schälte.
„Das ist ja schön.“ Antwortete der Mann, der inzwischen gänzlich ins Licht des Hausflures getreten war, mit leise röchelnder Stimme, während er am ganzen, von einem grauen und zerschlissenen Jogginganzug bekleideten und scheinbar völlig ausgemergelten Körper wie Espenlaub zitterte.
„Verdammter Alkohol.“ Dachte sich Stefan noch, als ihn dieses Gespenst von einem Mann, den er auf ein Alter von etwa sechzig oder siebzig Jahren schätzte in seine Wohnung bat. Dort, wo ihm dieser, nachdem der Fernseher auf und eingestellt war, von einer furchtbaren  und unglaublichen Geschichte erzählte.
*
Es war die Geschichte eines jungen Mannes, der ein paar Freunde aus der DDR in den Westen schleuste. Und den man bei seinem letzten Mal auf frischer Tat erwischte und verhaftete. Die Geschichte von eines jungen Mannes, den die Staatssicherheit, bevor man ihn als Schleuser für ganze fünfzehn Jahre ins Gefängnis warf, Tage und Wochen lang mit brutalen Schlägen misshandelte und mit Medikamenten folterte.
Eine Geschichte, die selbst für Stefan, dessen Vergangenheit ebenfalls von politischer Verfolgung durch die Staatssicherheit und von zwei politischen Haftstrafen geprägt war, kaum zu fassen war. Doch obwohl all das Gehörte schon schlimm genug war, sollte das, was danach kam, mindestens genauso schlimm werden. Denn dieser Mann erzählte ihm von einer furchtbaren Haftzeit, die ihm seiner Meinung nach gesundheitlich den Rest gegeben hatte. Und er erzählte von der Zeit danach. Als er wieder in der Bundesrepublik Deutschland war, von der er sich Hilfe erhoffte. Hilfe, die aber nicht kam. Denn es war ihm nicht mögl, zu beweisen, was man ihm während diesen Misshandlungen und den Folterungen angetan hatte. Es war ihm nicht möglich, die Medikamente zu beweisen, die man ihm immer wieder in großen Mengen verabreicht hatte und die letztendlich schwere Nieren und Leberschäden in ihm verursachten.
Der Grund dafür, warum dieser gerade erst fünfundvierzig Jahre alte Mann den Eindruck machte, als wäre er bereits viel älter. Ein Mann, dem die Ärzte nur noch wenig Zeit gaben, der, abgesehen von einer kleinen Invalidenrente keine diesbezügliche Zuwendung oder Entschädigung bekam und der das Sozialamt bitten musste, ihm einen billigen Fernseher zu genehmigen. Den Fernseher, den Stefan ihm an diesem Abend lieferte.
*
Drei Stunden hatte es gedauert, bis Michael wieder in seinem Lieferwagen saß. Stunden, die seine Kehle zu einer trockenen Wüste und seinen Magen zu einem Stein hatte werden lassen. Noch immer konnte er nicht fassen, was ihm dieser Mann, der sich etwas später als Gerhard vorstellte erzählt hatte. Doch obwohl es nur wenige Unterlagen gab, die diese Geschichte hätten bestätigen können, fühlte er tief in seinem Innern, dass dieser Mann die Wahrheit sagte.
*
Gerhards Schicksal hatte Stefan berührt. Und so kam es, dass er diesen Mann, der so vielen geholfen hatte und nun doch allein war, nicht nur immer öfter besuchte, sondern auch, dass er zu dessen einzigen Freund wurde. Ein Freund, der ihm glaubte, der ihm zuhörte, für ihn da war und der ihm bei allem half, das das kleine bisschen Leben, das
ihm noch blieb etwas lebenswerter machen konnte.
**
Gerd erhielt, nachdem er im Jahre 2000 mit Stefans Hilfe einen Antrag auf Rehabilitation und einen weiteren Antrag auf eine Haftentschädigung im Jahr 2002 eine Summe von mehreren tausend Euro. Ein kleiner Trost, der ihn zwar nicht wieder gesund machen konnte, der ihm aber sein bis dahin schwere Leben etwas milderte.
Ein Leben, das noch ein ganzes Jahr lang dauerte und das, als Gerhard schließlich starb trotz der erlebten Grausamkeiten und Enttäuschungen ein etwas glücklicheres Ende fand.
In Gedenken an einen guten Freund.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.

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