Oskar Serti ©Nurith-Wagner-Strauss
In einer Großstadt gibt es Orte, die eine gewisse Magie ausstrahlen. Gebäude, die wegen ihrer ungewöhnlichen Architektur markant den Ort bestimmen. Plätze, die raumgreifend agieren und die Menschen anziehen, Straßen, die pulsieren, weil sie so viele Geschäfte beherbergen. Oder aber Orte die deswegen ein eigenes Flair entwickeln, weil man in ihnen Dinge erleben kann, die außergewöhnlich sind. Opern- und Konzerthäuser gehören hier dazu. In Wien gibt es gleich mehrere davon, aber nur eines, von dem aus man im Winter auf den nebenliegenden Eislaufplatz blickt und in den Konzertpausen zusehen kann, wie sich die Menschen dort schlittschuhlaufend vergnügen – was alleine schon ein Vergnügen ist.
Die Rede ist vom Wiener Konzerthaus, das seit seinem Bestehen sowohl der musikalischen Tradition als auch der musikalischen Innovation verpflichtet ist. Tradiert wird, was eben schon Bestand hat. Dies ist im Übrigen auch die leichter zu erfüllende Aufgabe. Neues zu präsentieren ist schon alleine deswegen schwieriger, weil das Publikum dafür nicht so zahlreich gesät ist – die, die sich dafür aber interessieren, sind treue Dauergäste. Dann nämlich, wenn das Festival Wien Modern im Konzerthaus logiert und dieses – so geschehen am 5. und 6. November vom Keller bis zum Dach in Beschlag nimmt.
An diesen beiden Tagen präsentierte sich das Wiener Konzerthaus als ein Ort, der seinem Publikum vieles bot. Das einzige, was es mitzubringen hatte war Zeit – und auch ein wenig Neugier. Denn abgesehen von einem ganzen Reigen an Konzerten, die teilweise sogar parallel in zwei der Säle stattfanden, durfte man sich ganz nach Lust und Laune darin bewegen. Man versammelte sich im Foyer – wie üblich – aber nicht wie üblich stieß man dort schon auf Klänge. Geräusche eines einfahrenden Zuges waren zu vernehmen, das Foyer war urplötzlich kein Garderobenraum mehr, sondern eine Bahnhalle in welcher man aus einem Lautsprecher eine Stimme vernahm die erzählte, dass ein gewisser Oskar Serti in dieser imaginären Bahnhalle auf seine Angebetete wartete und schließlich enttäuscht und fluchtartig diese wieder verließ. Oskar Serti, laut einführender Erklärung einer der wichtigsten ungarischen Schriftsteller ist jedoch, sosehr man ihm an diesem Abend auch huldigte, nichts anderes als eine Kunstfigur. Erfunden von Patrick Corillon, der mit ihm quasi als Schattenmann nun schon seit einiger Zeit durch verschiedene Konzerthäuser dieser Welt tourt. Um doch immer wieder Neues hinzuzufügen, zu dieser imaginären Biographie, in der es von der Begegnung mit Bekannten aus der Musikgeschichte nur so wimmelt.
Die Hommage an Oskar Serti war an diesen Abenden eine allumfassende. In den Konzertpausen schlüpften die Musikerinnen und Musiker des Klanforum Wien in die Rolle von Erzählerinnen und Erzählern und erweckten so diese Kunstfigur zum Leben. An den unterschiedlichsten Plätzen des Hauses, wie den Buffets, den Gängen vor den Sälen oder auch in den Zwischengeschoßen der Treppen lauschte man seinen Erlebnissen. Ob man hörte, wie er sich über eine schlecht paraphierte Eintrittskarte ärgerte, wie er seiner Angebeteten ein Liebesgeständnis machen wollte und doch nichts anderes erreichte als eine Bartok-Büste ins Wanken zu bringen, oder ob man erfuhr, wie ihm eine Eintrittskarte aus der Brusttasche gerutscht war, die dann noch Schuld am fehlerhaften Spiel einer Pianistin war – immer schwankte das Erzählte zwischen Fiktion und Realität. Bis hin zu jener Ausstellung, die im großen Foyer die angebliche Instrumentensammlung des Schriftstellers zeigte. Stücke, die allesamt Geschichte in der Musik geschrieben hätten, wie z.B. eine Trompete, welche vom Trompeter während der Missfallensbekundungen anlässlich der Uraufführung des „Sacre de printemps“ aus Wut ins Publikum geschleudert wurde.
Und fast einschnitthaft schoben sich zwischen all diese literarischen Sensationen Konzerte. Längere und kürzere, bekannte und unbekannte. Ins Ohr schmeichelnde und solche, bei denen einige aus dem Publikum den Saal frühzeitig verließen. Sie alle hier zu benennen sprengt den Rahmen dieses Artikels. Eines jedoch soll besonders hervorgehoben werden.
Die „collection Serti“ oder„Erkundungen einer Musiksammlung“, wie die Komposition im Untertitel heißt, ist ein Auftragswerk der Erste-Bank, welches punktgenau für diese Veranstaltung von Gerald Resch komponiert worden war. Es bezog sich thematisch auf die in luftigen Vitrinen ausgestellten Instrumente und war für das Konzerthaus selbst eine ganz besondere Premiere. Denn Resch bezog sich mit diesem Werk auf das große Foyer, in dem es auch aufgeführt wurde. Er komponierte es für jenen Raum, der normalerweise als Durchgangsort wahrgenommen wird, an dem man nur kurz hält um sich zu begrüßen und seine Garderobe dort abzugeben. Genau dort hatte man das Publikum versammelt, das stehend, dicht an dicht, dieser Uraufführung lauschte. Nacheinander stellte sich ein Instrument um das andere mit kleinen Sequenzen solistisch vor. Was bewirkte, dass man die wunderbaren Musikerinnen und Musiker des Klangforum Wien einmal aus der Nähe hören und sehen konnte, aber auch Gelegenheit bekam deren Können in dieser Vorstellungsphase ausgiebig zu bewundern. Bald wurden diese kurzen Sequenzen vom restlichen Ensemble aufgenommen und verdichtet, bis erneute eine Solostimme zu vernehmen war. Jedes Instrument kam dabei zu seinem – ich möchte sagen – „natürlichen“ Recht. Durfte sein ureigenes Klangspektrum voll zum Besten geben und dabei doch Neue klänge produzieren. Reschs Musik gestaltete sich, je länger man lauschte, harmonisch im Sinne von tatsächlich vertrauten Harmonien. Und genau diese Verschränkung zwischen Vertrautem und Neuem spiegelte den eingangs erwähnten Auftrag des Hauses auch sehr schön wieder. Resch erwies mit der Komposition dem Haus seine Reverenz und schrieb ihm örtlich neue Bedeutungen zu. Dass sich unter dem Publikum gleichberechtigt nun auch all jene befanden, die normalerweise außerhalb des Konzertsaales auf das Ende der Vorstellungen warten, also die Platzanweiser und die Damen und Herren bei den Garderoben, war fast äquivalent mit der Aufführungspraxis dieses Stückes zu sehen – das ohne Dirigat auskommt und in welchem sich die Musikerinnen und Musiker ganz auf sich selbst und die Gemeinschaft verlassen müssen bzw. dürfen. Ein Konzert, in dem sich die Unterschiede der Besucher und Dienstleister aufhoben und beide ein wenig in die Rolle der jeweils anderen schlüpfen konnten. Ein Stück, das Grenzen sprengte, ohne gewisse Grenzen jedoch nicht außer Acht zu lassen. Was noch zu sagen wäre: Gerald Resch wäre wohl nicht er selbst, hätte das Stück nicht auch noch mit einer großen Überraschung geendet. Oder haben Sie schon einmal eine Komposition gehört, an dessen Ende die Instrumente gestimmt werden?
Oskar Serti geht ins Konzert. Warum? – Diese „Nachdenklichkeit“ von Patrick Corillon brachte tatsächlich zum Nachdenken. Aber nicht warum Oskar Serti das vermeintlich so gerne tat, sondern vielmehr warum wir es tun. Experiment rundum gelungen!