Ein fjordartiger Stausee ist der Sylvensteinspeicher im Karwendelgebiet. Eng verknüpft mit der Geschichte des Sees ist das Dorf Fall, das den Schriftsteller Ludwig Ganghofer zu seiner Erzählung Der Jäger von Fall inspirierte.
Die heutigen Häuser sind allerdings nicht identisch mit dem Ort, dem Ganghofer 1883 ein literarisches Denkmal setzte; sondern Nachfahren einer buchstäblich untergegangenen Siedlung. 1959 – drei Jahre nach der vierten Verfilmung und 15 Jahre, bevor „Der Jäger von Fall“ ein weiteres Mal als Heimatschmonzette recycelt wurde – opferte die bayerische Staatsregierung das Dorf Fall dem technischen Fortschritt. Weichen musste es dem Sylvensteinspeicher, der das Isartal vor Hochwasser abschotten und – als angenehmen Nebeneffekt – jenen Ökostrom liefern sollte, der heute wieder in aller Munde ist. Eigentlich eine Win-Win-Situation, wären da nicht die 33 Einwohner von Fall gewesen. Sie wurden größtenteils nach Neu-Fall umgesiedelt: eine am Reißbrett geplante Retortensiedlung, eigens dafür errichtet, den Vertriebenen eine neue Heimat zu bieten. Bis auf seine Umgebung und ein Hotel, das – wie sollte es anders sein – ebenfalls „Jäger von Fall“ heißt und dazu passend in der Ludwig-Ganghofer-Straße steht, hat das neue Fall zumindest Auswärtigen nicht viel zu bieten.
Das alte Fall taucht alle Jahr(z)e(hnte) wieder aus den Fluten auf. Nämlich immer dann, wenn an einem der beiden Ablaufstollen des Sylvensteinspeichers Arbeiten anstehen. Im Dezember 2015 ist es wieder soweit.
Sonnig und wolkenlos ist der siebte Dezember, typisch ist für diesen viel zu warmen Herbst 2015.
Der Parkplatz am Nordufer des Sees ist voll. Auch die Straße hinter der Brücke ist beiderseits von Autos gesäumt, die Brücke wiederum von deren Insassen: (ältere) Ehepaare, Familien mit Kindern, Rentner, Hipster und Outdoor-Enthusiasten sind unterwegs. Es herrscht Eventstimmung: hätte ich im vorigen Absatz geschrieben, das alte Fall tauche nur alle JUBELjahre wieder auf – angesichts der Menschenmenge könnte man es wörtlich nehmen.
Unter den Parkenden sind auch der Transporter einer Filmproduktion und ein Kombi von Sat 1 Bayern. Die Geschichte von Fall scheint allenthalben auf Interesse zu stoßen. Prompt schraubt sich ein neumodisches Plastikinsekt steil in den Himmel, als ich von der Westseite der Brücke aus Fotos mache. Die Aufnahmen des Drohnenpiloten findet ihr hier.
Mit Smartphone, Kompakt- oder Spiegelreflexkamera wird die Szenerie auf Chip gebannt; dabei dürfte sie jedem Nordseeurlauber seltsam vertraut vorkommen. Das Wasser hat sich zurückgezogen, in teichgroßen Pfützen glitzern die Sonnenstrahlen. Die Mutigeren begeben sich jenseits der Brücke auf „Wattwanderung“ durch den schmatzenden Batz. Die Aussicht auf eine Schlammschlacht im Fußraum meines Autos und eine ausgiebige Schuhputzorgie erscheint mir jedoch wenig einladend.
Der verlandete See ähnelt nicht bloß optisch dem norddeutschen Wattenmeer bei Ebbe. Über dem Becken liegt ein modderiger Geruch. Im Hochsommer wäre der Gestank wohl unerträglich.
Befremdlich wirken die Reste zweier Rampen – mutmaßlich die Tennenbrücken eines Bauernhofes – und offensichtliche Grundmauern und Fundamente, die sich im Brachland abzeichnen: die Reste des alten Fall. Die Urban Legend vom Kirchturm, der bei Niedrigwasser emporragt, wird allerdings widerlegt. Dank tausendfach bei Facebook, Instagram und Twitter geteilter Bilder wohl endgültig.
Reste zweier Tennenbrücken… …sowie Fundamente und Grundmauern sind erkennbar. Nicht umsonst wird die Gegend um den Sylvensteinsee auch „Bayrisch‘ Kanada“ genannt: Blick auf Lerchkogel und östliches Torjoch. Im Westen reicht der Blick über die Schöttelkarspitze bis zum Berg Daniel in den Ammergauer Alpen. Ein Floß auf Halde? Ein buntes Potpourri an Menschen ist rund um die Sylvensteinbrücke auf den Beinen. An diesem Brückenpfeiler sind Franziska(?) und Leonhard(?) verewigt.Da das Thema derzeit ein großes Echo in den Medien findet, spare ich mir an dieser Stelle weitere Ausführungen und verweise stattdessen auf die Artikel anderer Medien:
- Geisterdorf taucht im Sylvensteinsee auf – rosenheim24.de, 11.12.15
- Einzigartiges Ereignis: Wasser weg im Sylvensteinsee – merkur.de, 08.12.15
- Sylvensteinsee: Historische Bilder der Sprengung von Fall – merkur.de, 08.12.15
- Abgesenkt – SZ.de, 29. November 2015
- Mit dem Wasser schwindet der Mythos – SZ.de, 09. Dezember 2015
- Erinnerungen an das Dorf am Seegrund – SZ.de, 11. Dezember 2015
Der See wird „erst“ 2016 wieder aufgestaut. Ihr habt also noch einige Wochen Zeit, Euch das Spektakel anzusehen.
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