„Es sind nicht die grossen Tragödien, die uns umbringen, sondern die kleinen alltäglichen Schlamassel.“ Diese jüdische Redensart kennen Sie vielleicht auch in der einen oder anderen Form. Das unausgesprochene Verbot zum Beispiel, neben der Beziehung noch ein Privatleben zu pflegen, kann ein Nährboden für alltägliche, kleinere oder grössere Misslichkeiten bilden.
Wann sind Sie das letzte Mal allein verreist oder ausgegangen, ohne ein familiäres oder geschäftliches Anliegen damit zu verknüpfen? Wie viel Raum für rein private, persönliche Angelegenheiten steht Ihnen in Ihrem Leben zur Verfügung? Wie machen Sie das, wenn Sie sich zurückziehen wollen – und sei es nur, um „privat“ zu telefonieren? Getrauen Sie sich das oder schummeln Sie? Wie viel Kontrolle brauchen Sie, damit Sie sich wohlfühlen können in der Beziehung und das Privatleben des anderen nicht als Geheimniskrämerei anklagen müssen?
„Was halten Sie von dem Experiment, getrennte Schlafzimmer einzurichten, zeitlich vorerst begrenzt auf drei oder sechs Monate? Was glauben Sie, wie würde sich diese Veränderung auf Ihre Beziehung auswirken?“ Für die meisten hört sich diese Idee aufregend, um nicht zu sagen bedrohlich an. Als Ausdruck von Wohlstand und Fortschritt billigen wir unseren Kindern zwar ein eigenes Zimmer zu. Aber uns selber? Ich meine das durchaus im Ernst: Nicht immer steht zuwenig Gemeinsamkeit dem Leben in Lust und Liebe im Wege sondern es kann auch zuviel sein. So nach dem Paradoxon: Wer Nähe und Intimität erfahren will, möge die Distanz und Abgrenzung pflegen.
Paare klagen oftmals über mangelnde emotionale oder sexuelle Intimität. Das führt mich dann zu der Hypothese, dass beide Partner möglicherweise über zuwenig Privatraum verfügen. Zum besseren Verständnis beschreibe ich dann oft das Hotelzimmer. Wenn ich dort nicht gestört werden will, zum Beispiel morgens durch den Zimmerservice, hänge ich ein Schild aussen an die Türfalle, mit der roten Aufschrift „Bitte nicht stören“. Steht Ihnen dieses Mittel zur Regulierung von Kontakt zu Hause auch zur Verfügung? „Mutter will gerade nicht gestört werden!“ Würden Ihre Kinder oder Ihr Partner das mit und Respekt und Wertschätzung quittieren?
Es herrscht Konsens darüber, dass wir als einzigartige Wesen wahrgenommen werden wollen. Als Paar-Wesen bleibt dieser Anspruch dann aber allzu leicht auf der Strecke. Dazu zähle ich im Tanz zwischen Autonomie und Bindung auch die Rückeroberung des eigenen Schlafzimmers. Zwar leben wir in einer Zeit, in der wir die Partnerschaft nach unseren eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestalten dürfen. Doch wir quälen uns mit der Wahl. Denn: Die Beziehung steht unter Druck, weil die Bandbreite dessen, wie sich ein Paar „richtig“ verhält, moralisch begrenzt ist. Sich also gegen die Beschämung durch familiäre, gesellschaftliche oder religiösen Konventionen zu wehren, braucht viel Mut und Kraft. So wird verständlich, dass wir schnell bereit sind, die Deutungshoheit darüber, was ein „rechtes“ Paar ist, kampflos an die Meinung der Nachbarn abzutreten.
Ein Paar-Organismus braucht Luft zum Atmen. Gleichzeitig müssen wir der Versuchung widerstehen, miteinander zu verschmelzen. Daraus schliesse ich überspitzt: Wer der „Tyrannei der Intimität“ widersteht, wer also Aufruhr zulässt und Schlamassel aushält, der bleibt am Leben und gar ein bisschen unverheiratet.