gefunden in der nzz am 1.12.10, geschrieben von Marc Zitzmann
Foie gras als Geisteshaltung
eine kleine Geschichte des gastronomischen Mahls der Franzosen, das jüngst auf die Unesco-Welterbeliste aufgenommen wurde
Als Bub galt mir Räucherlachs als der Inbegriff der Gastronomie. Ich bestellte davon bei fast jedem unserer Restaurantbesuche während den Sommerferien in der Bretagne eine Portion. Peu à peu erschlossen sich mir dann vielschichtigere kulinarische Sensationen und Emotionen. Unsere Eltern nahmen meine Schwester und mich – wir können es ihnen gar nicht genug danken – schon früh mit in Toprestaurants. Das allererste dürfte (1982?) die Schwarzwaldstube der Traube Tonbach in Baiersbronn gewesen sein – kein französisches Restaurant, gewiss, aber eines mit dezidiert französischem Einschlag, damals wohl noch mehr als heute. Auf diesen Auftakt mit dem Effekt eines lang nachhallenden Paukenschlags folgten die (seitdem zum Teil stark gewandelten, wo nicht gar geschlossenen) Etablissements von Jean-Paul Abadie, Yannick Alleno, Michel Bras, Didier Clément, Alain Dutournier, Eric Fréchon, Pierre Gagnaire (während seiner mythischen Zeit in Saint Etienne: ein Traum-Essen!), Michel Guérard, Bernard Loiseau, Jean-Michel Lorain, Guy Martin, Bernard Pacaud, Alain Passard, Jean-François Piège, Guy Rostang, Joël Robuchon, Alain Senderens, Michel Trama, Jean-Pierre Vigato und vielen anderen. Auf diese Art bin ich, wo nicht zum Gourmet, so zumindest zum Gourmand geworden.
Diese persönlichen Erinnerungen sind hier deshalb relevant, weil das französische Kulturministerium in seinem Bewerbungsschreiben für die Aufnahme des «repas gastronomique des Français» auf die Unesco-Liste für das immaterielle Welterbe unterstreicht, dass es sich um einen sozialen Brauch handelt, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Kinder lernen durch mündliche Anweisung und durch Nachahmung, wie sie sich während eines gastronomischen Mahls zu verhalten haben. «Ihre Anwesenheit am Tisch gleicht einem Initiationsritual, bedingt sie doch die Beobachtung und Verinnerlichung von festgeschriebenen Verhaltensweisen». Genau so war es bei meiner Schwester und mir, bis wir begriffen hatten, dass man sich ein Stück Butter nicht mit dem eigenen Brotmesser abschneidet und die Mignardises zum Café nicht zwangsläufig alle wegputzen muss (was wir aber trotzdem taten, auf die Gefahr hin, unsere Bäuchlein bis zum Bersten zu strapazieren).
Was die Unesco am 16. November mit ihrer Annahme des französischen Antrags auf ihre Liste des immateriellen Welterbes aufgenommen hat, ist also keine Rezeptsammlung, sondern ein Ensemble von Bräuchen und «Mentalitäten». Das genannte Bewerbungsschreiben streicht dies auch deutlich heraus: «Der Begriff <gastronomisches Mahl> meint eher eine gemeinsame Vorstellung vom <guten Essen> als spezifische Gerichte. Er verweist auf eine weitverbreitete gastronomische Kultur, die allen Franzosen bekannt ist, von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich ständig erneuert, etwa durch den Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten.»
Der Text legt dem «repas gastronomique des Français» sechs Riten zugrunde. Erstens das Erstellen eines ungewöhnlichen (das heisst vom Alltagsessen abweichenden) Menus. Zweitens der Einkauf von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln. Drittens die Abstimmung zwischen den einzelnen Speisen und den zu diesen servierten Weinen. Viertens die Respektierung der «kanonischen», mindestens viergängigen Menufolge: Vorspeise, Hauptgericht (aus Fisch oder Fleisch mit Gemüse), Käse und Dessert, das Ganze eingerahmt durch Apéritif und Digestif. Fünftens die Dekoration des Tischs mit Tischdecke, (eventuell kunstvoll gefalteten) Servietten, mehreren Tellern, Gläsern und Bestecken, Schmuckobjekten usw. Endlich eine das Mahl begleitende Gestik – riechen, probieren, ganze Geflügel, Fische oder Kuchen in individuelle Portionen zerteilen. . . – und Konversation: «Bei Tisch über das sprechen, was man isst und trinkt, durch die Verwendung eines spezifischen Wortschatzes zeigen, dass man Speis und Trank zu schätzen weiss. Was die Gemeinschaft als <discours gastronomique> bezeichnet, ist ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Funktion des gastronomischen Mahls.»
Die Definition mag ein wenig veraltet und auch unvollständig anmuten: Vor dem immer weniger verbreiteten Digestif hätten zumindest der obligate Café und die begleitenden Mignardises noch Erwähnung finden können (und parallel zu diesen am Anfang des Mahls noch die Amuse-gueules). Auch fragt sich, was die Aufnahme auf die Unesco-Liste konkret ändern wird. Seit Ende der 1980er Jahre listet ein staatlich unterstütztes «Inventaire du patrimoine culinaire de la France» schon Region für Region die traditionellen Produkte und Rezepte des Landes auf. An der Universität von Tours soll zudem eine Forschungseinheit mit dem Namen «Patrimoines et cultures alimentaires et gastronomiques» geschaffen werden, die unter anderem das gastronomische Mahl in seinem Kontext studieren wird. Erwogen werden ausserdem die Gründung einer Kulturinstitution und eines TV-Senders zum Thema – Ankündigungen freilich, die man bei der derzeitigen Budgetlage mit Vorsicht geniessen sollte.
Den nach wie vor überragenden Ruf des französischen Gastronomie-Mahls jedenfalls dürfte die Aufnahme auf die ohnehin schon ausufernde Unesco-Liste, die am 16. November noch um 46 immaterielle Kulturgüter wie die nordkroatische Lebkuchen-Kunst, die Tanz-Prozession im luxemburgischen Echternach oder das türkische Ölkampf-Festival in Kırkpınar angereichert wurde, kaum noch weiter steigen machen. Laut einer letztjährigen Umfrage sehen über 95 Prozent der Franzosen das «repas gastronomique» als einen Teil ihres Kulturerbes an; sogar fast 99 Prozent möchten es an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Im Ausland war das Renommee der französischen Cuisine zwar absolut gesehen schon besser. Aber im Verhältnis zu jenem aller anderen nationalen Kochtraditionen ist es noch immer enorm, gelegentliche Polemiken (namentlich von angelsächsischer Seite) hin oder her.
Die europa-, wo nicht gar weltweite Vorrangstellung der französischen Gastronomie wurde im 17. Jahrhundert begründet. Im Mittelalter glich Frankreichs Küche mehr oder weniger dem europäischen Einheitsbrei, so der Geograf und frühere Präsident der Sorbonne-Universität Jean-Robert Pitte in seiner Studie «Gastronomie française. Histoire et géographie d’une passion». Eine Grundlage für den späteren Aufschwung bildete allerdings die alles in allem tolerante bis laxe Stellung der moralischen und namentlich religiösen Autoritäten. Die Völlerei oder Gefrässigkeit, hierzulande wohlklingender «Gourmandise» benannt, galt kaum je als eine Todsünde. In den Predigten der Gegenreformation rangierte sie weit hinter den anderen Hauptlastern. So konnte ein venezianischer Botschafter Paris bereits 1577 als eine Art kulinarisches Schlaraffenland zeichnen. Das seltene Zeitzeugnis ist umso aussagekräftiger, als dass es aus der Feder eines Italieners stammt. . .
Unter Louis XIV begann dann der europaweite Siegeszug der französischen Cuisine. Beziehungsweise des «Cuisinier françois», so der Titel des immens erfolgreichen, in alle wichtigen Sprachen übersetzten Kochbuchs von La Varenne (1651). Im Gegensatz zu seinem Vater war der Sonnenkönig ein Vielfrass. Berühmt ist der folgende Bericht von seiner Schwägerin, Lieselotte von der Pfalz: «Ich habe den König, und dies sehr oft, vier Teller verschiedene Suppen essen sehen, einen ganzen Fasan, ein Rebhuhn, einen grossen Teller voll Salat, in seinem Saft aufgeschnittenen Lammbraten mit Knoblauch, zwei gute Scheiben Schinken, einen Teller voll Gebäck sowie Früchte und Eingemachtes».
Gleich den anderen Künsten emanzipierte sich die Kochkunst unter Louis XIV vom bis dahin vorherrschenden italienischen Einfluss – was klar einem politischen Programm entsprang. War vor dem «Cuisinier françois» über ein Jahrhundert lang kein einzige Kochbuch veröffentlicht worden, so folgte auf diesen eine wahre Flut von Publikationen – zu den wichtigsten zählen «L’Art de bien traiter» von L.S.R. (1674) und der «Cuisinier royal et bourgeois» von François Massialot (1691). Wie die Architektur und die Grammatik sollte auch die Kochkunst kodifiziert werden – das Zeitalter des Sonnenkönigs war bekanntlich jenes der Hochblüte des Akademismus. Die geometrische Anordnung der Speisen auf dem Tisch des absoluten Monarchen, der in Versailles meist allein, dafür aber öffentlich speiste, evozierte einen nach allen Regeln der Kunst gestalteten Jardin à la française.
Aus dieser Zeit stammen die ersten regulären – das heisst nur für diesen Zweck bestimmten – Esszimmer. Unter dem Sonnenkönig begann so die symbiotische Beziehung zwischen Dekor und Gastronomie, die dann kurz vor der Revolution in den prachtvollen Speisesälen der Pariser Hôtels Botterel-Quintin, du Châtelet, de Crillon und de Lassay gipfelte. Auch das genuin gastronomische Interesse am Wein, den die Eliten des Grand Siècle übrigens weiss und vor allem in Champagner-Form schätzten, erwachte in dieser Zeit. «L’Art de bien traiter» enthält längere Passagen zum Thema – für ein Kochbuch bis dahin unüblich. Was endlich den Tellerinhalt betrifft, wichen die mittelalterlichen Mélangen Süss-Sauer und Süss-Salzig einer strengeren Trennung der Geschmacksrichtungen. Die Saucen ihrerseits, einst wässerig und säuerlich, verloren zunehmend an Gewürzen, was sie an Butter gewannen.
Butter-Reichtum wird denn auch bis in die 1970er Jahre hinein ein Kennzeichen der grossen französischen Küche bleiben, bis zum Siegeszug der «Nouvelle Cuisine». Eine solche gab es übrigens schon in den 1730er Jahren. Ihre Vorkämpfer definierten sie als «weniger gewunden, weniger aufwendig, aber vielleicht noch gelehrter» als die traditionelle Küche. Es handle sich, so eine Streitschrift zum Thema, um «eine Art Chemie», die die Ingredienzien von allem Irdisch-Schweren befreie und lediglich ihre Quintessenz zum Ausdruck bringe – die heutige Molekularküche hat wenig Neues erfunden! Ein Kritiker freilich monierte, mit der «Nouvelle Cuisine» schmecke Fleisch wie Fisch, Fisch wie Fleisch – und Gemüse nach überhaupt nichts mehr! Der Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten schlug in den 1740er Jahren hohe Wellen; von da an gehörten flammende Dispute und hochfliegende Theorien mit zur Welt der französischen Gastronomie.
Ein Vierteljahrhundert später begann mit der Eröffnung des ersten «Restaurants» die Errichtung eines weiteren Grundpfeilers der Haute Cuisine. Zwar gab es schon zuvor Aberhunderte von «aubergistes», «pâtissiers», «rôtisseurs», «traiteurs» und Weinhändlern, bei denen man vor Ort speisen konnte, meist an grossen Gästetischen. Aber die Restaurants markierten einen bedeutenden Qualitätssprung – nicht nur, was den Glanz des Dekors und die illustre Herkunft und/oder gut gefüllte Börse der Kundschaft betraf, sondern auch hinsichtlich des Reichtums und Raffinements der Menukarte. Die berühmtesten der frühen Restaurants lagen am Palais-Royal – jeder, der Balzac oder Sébastien Mercier gelesen hat, kennt ihre Namen: Beauvilliers, Café de Foy, Café des Mille-Colonnes, Grand Véfour, Méot, Véry. . . Die Revolution und das erste Kaiserreich taten ihrem Erfolg und Renommee keinen Abbruch, im Gegenteil: Als die Alliierten nach Napoleons Sturz 1814 in Paris einmarschierten, stürzten ihre Führer als erstes zum Palais-Royal. . .
Wo es Restaurants gibt, finden sich auch Restaurantkritiker. Grimod de la Reynière (1758-1837) gilt als der erste hiesige Vertreter des Berufsstands, als der Erfinder der Chronik, des Führers (mit seinem «Almanach des gourmands») und der Zeitschrift (mit seinem «Journal des gourmands et des belles»). Das Wort «Gastronomie» entstand übrigens um 1800 mit dem Zweck, «die Kunst des guten Essens» zu benennen. Nach Grimods Vorbild ist ein «Gastronom» kein Koch, zumindest nicht hauptberuflich, sondern ein Homme de lettres. Auch im frühen 19. Jahrhundert blieb die französische Kochkunst auf visuellen Effekt bedacht, wenngleich mit ganz anderen Mitteln als zur Zeit des Sonnenkönigs. Der berühmteste Kulinarik-Künstler des ersten Drittels des Jahrhunderts, Antonin Carême, studierte unablässig Architekturtraktate und illustrierte seine Kochbücher mit Farbzeichnungen seiner üppig ornamentierten Kompositionen, die er auf skulptierten weissen Schmalz-Sockeln präsentierte.
Der Übergang vom «Service à la française», bei dem alle Speisen eines Gangs zeitgleich und in reich dekorierten Riesenmengen auf den Tisch kamen, zum in Teller-Portionen aufgetragenen und also instant (und noch einigermassen warm!) zum Verzehr bereiten «Service à la russe» markierte im Lauf des Jahrhunderts den Wechsel von einer Gastronomie fürs Auge zu einer solchen für den Gaumen. Einen gewissen Hang zum Dekorativen hat die Haute Cuisine freilich bis heute nie ganz abgestreift – in dieser Hinsicht bildete die kulinarische Entdeckung Japans für die «Nouvelle Cuisine» in den 1970er Jahren einen Glücksfall, gestattete der raffinierte Minimalismus der Asiaten doch die Entfaltung eines hohes Masses an ästhetischem Liebreiz, ohne sich der anvisierten Einfachheit und «Produkt-Ehrlichkeit» zu begeben.
Die weiteren Etappen der Entwicklung der französischen Gastronomie bis heute sind bekannt – von der Erfindung (oder Popularisierung) der «Palasthotel-Cuisine» durch César Ritz und Auguste Escoffier mitsamt der Einführung einer Form von Taylorismus in den Kochbrigaden über die Entdeckung beziehungsweise Nobilitierung der Regionalküchen und einer etwa durch Lyoner «Mütter» wie die Mères Brazier und Fillioux verkörperten «Authentizität des Bodenständigen» bis zur «Nouvelle Cuisine», die durch das Journalisten-Tandem Henri Gault und Christian Millau propagiert wurde. Einen detaillierten geschichtlichen Überblick bietet die ebenso kenntnisreich wie flüssig und elegant geschriebene «Histoire de la cuisine et de la gastronomie françaises» von Patrick Rambourg.
Den Fall Gault et Millau möchte ich hier zum Schluss noch kurz herausgreifen, weil er besonders eklatant vor Augen führt, wie das Reden beziehungsweise Schreiben (und Lesen) übers Essen hierzulande ein wesentlicher Bestandteil der Gastronomie ist. In den 1980er Jahren studierten mein Vater und ich die jeweiligen Jahresausgabe des Gault et Millau-Führers wie Talmudisten die Tora. Die brillanten Restaurant-Beschreibungen waren engagiert, ja kritikfreudig, sprühten dabei aber vor Verve und Enthusiasmus. (Der heutige Führer wirkt dagegen lauwarm-routiniert und in seiner Benotung immer wieder beliebig bis absurd.) Stundenlang träumten wir von diesem oder jenem Etablissement, zu dem man bei dieser oder jener Autoreise einen Abstecher einlegen könnte, planten Routen und legten uns für alle Fälle Zweit-Parcours mit alternativen Adressen zurecht. Liebe, heisst es, geht durch den Magen – mag sein. Essen im gastronomischen Sinn jedenfalls geht, auch und massgeblich, durch das Hirn. . .