„Eier!“. Eine Geschichte über Ziegenhoden und Radiowellen

„Eier, wir brauchen Eier!" wusste schon der große deutsche Philosoph Oliver Kahn. Dabei hatte er aber zweifellos nicht die Eier von Ziegenböcken im Sinn. Der Torwart-Titan ist eben kein John R. Brinkley. Glücklicherweise. Wer weiß, auf welche Abwege ein zweiter Mr. Brinkley die Menschheit führen würde. Die Dokumentation „Eier!" (Original „Nuts!) erzählt die Geschichte eines amerikanischen Scharlatans, der Ziegenhoden transplantierte und damit Millionen verdiente.

John R. Brinkley setzte Männern die Geschlechtsdrüsen von Ziegenböcken ein, um Impotenz zu heilen. Er machte kinderlosen Paaren Hoffnung auf Nachwuchs, er holte zwischen den beiden Weltkriegen das verschämt hinter verschlossenen Türen gehaltene Thema Sex, bzw. das Problem der Unfähigkeit zum Sex, in die Öffentlichkeit und er profitierte von der Macht des Placebo-Effekts. In Wahrheit hatten seine Prozeduren keinerlei positive Effekte . Das einzig Gute, was einem passieren konnte, war, die Behandlung durch den „Wunderarzt" zu überleben. Der am 8. Juli 1885 geborene John Romulus Brinkley täuschte viele Menschen, indem er mit den neuen Möglichkeiten seiner Zeit spielte. Er gründete seinen eigenen Radiosender und erreichte so unzählige Menschen, die er mit seinen medizinischen Ratschlägen und Werbung für seine Dienste und Produkte beglückte. 1934 ließ er seine eigene Biographie mit dem Titel „The life of a man: A biography of John R. Brinkley" veröffentlichen. Dieses Buch diente der Doku „Eier!" aus dem Jahr 2016 als Leitfaden der etwas anderen Art.

Der Anblick zweier von Hand gezeichneter rammelnder Ziegen macht schon ziemlich zu Beginn des Films deutlich, dass „Eier!" keine klassische Doku ist, wie sie üblicherweise auf Sendern wie N24 und Phönix ausgestrahlt wird. „Eier!" (der Originaltitel „Nuts!" trifft es eigentlich besser) verknüpft drei Darstellungsmittel. Die Doku verwendet zum einen Zeichentricksequenzen im Stil grob-eleganter Bleistiftzeichnungen, außerdem originale Film-, Foto- und Tonaufnahmen von Brinkley sowie Einblendungen von Experten, die Kommentare zu den damaligen Ereignissen abgeben. Alle drei Darstellungselemente sind sehr ausgewogen. So schafft es die Doku clever zu kaschieren, dass es ziemlich wenig Originalmaterial von Brinkley gibt. Der so genannte Arzt hat sich verständlicherweise nicht gerne über die Schulter schauen lassen.

Bemerkenswert sind nicht nur die visuellen Mittel, sondern auch die Erzählstruktur. Größtenteils spielt sich die Handlung aus der Sicht von Brinkley ab. Der Dokumentarfilm erzählt die von ihm autorisierte Biographie aus dem Jahr 1934 nach und zeigt uns, wie Brinkley als braver, mutiger, aber armer Junge sein Medizinstudium schaffte, wie er revolutionäre Methoden entwickelte, mit denen er so viel Gutes bewirkte, wie ihm das ignorante Medizin- und Medienestablishment Steine in den Weg legte, er sich aber nie unterkriegen ließ und wie er ein Imperium aufbaute, das tausende Arbeitsplätze schuf. In den Zeichentricksequenzen wird Brinkley als positive, sauber-weiße Figur dargestellt, seine Gegner dagegen als düstere Charaktere, die aus Angst vor dem Fortschritt und aus purem Neid heimtückische Intrigen schmieden. Der Zuschauer findet sich auf Brinkleys Seite wieder und spürt dabei, ob nun mit Vorwissen zu den Geschehnissen oder ohne, dass da etwas nicht stimmen kann.

Schließlich wendet sich das Blatt. Als Brinkley gegen seinen größten Kritiker Morris Fishbein, dem Herausgeber des Journal of the American Medical, vor Gericht zieht, fallen die Lügen und Täuschungen in sich zusammen. Brinkley wird entlarvt. Er war nie ein brillanter Außenseiter im Kampf gegen das sture Establishment, sondern ein Betrüger, dem es nur ums Geld ging und der willentlich und wissentlich den Tod vieler Menschen in Kauf genommen hat, die in ihm einen Retter sahen. Er war vermutlich nichts anderes als ein Soziopath.

Die Nebenwirkungen

Auch als Zuschauer kann man sich getäuscht fühlen. Wir wussten, dass es nicht wahr sein konnte, dass uns ein Bär aufgebunden wird, aber Brinkley schien doch eine positive Gestalt zu sein. Er wurde uns schließlich als der Gute, der Missverstandene, der Kämpfer verkauft. Zweifellos ist das genau die Absicht hinter dem gewählten Erzählstil dieses Films. Uns sollen die Augen aufgehen, wie sie den Menschen damals aufgingen, in vielen Fällen leider zu spät. Man kann so leicht auf einen Menschen hereinfallen. Manchmal reicht schon das Bild, das er selbst von sich zeichnet oder das andere von ihm zeichnen, aller Logik und Beweise zum Trotz. Blicken wir uns aktuell in der Welt um, muss man sich fragen, ob nicht gerade doch wieder John R. Brinkleys am Werk sind, nur dass sie uns keine Ziegenhoden andrehen wollen, sondern ihre Auffassung eines starken Staates.

„Eier!" ist eine interessante, ungewöhnliche und unterhaltsame Doku, die nachdenklicher macht, als man anfangs vermutet. Sie kann von Amazon-Prime-Kunden kostenfrei über Amazon Video angeschaut werden.


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