Jene Nacht war wie jede andere Nacht, denn jede Nacht kann eine gute Nacht sein, für viele Dinge: um ein Kind auf die Welt zu bringen, um eine Stadt zu bauen, um ein Buch anzufangen oder eine Mauer einzureißen. Es gibt Mauern – und es wird sie weiterhin geben – aller Art: physische, aber auch psychologische, geistige und emotionale. Und die Mauer, die in einer kalten Novembernacht fiel (zugleich zum kam jenes wunderbare Jahrzehnt der Achtziger mit seiner Punk-Ästhetik und Veränderung in der Luft zu seinem Ende) war eine wie alle Mauern, aber außerdem war sie zu einer schweren Last geworden für eine Menschheit die nach Freiheit schrie, die Berliner Mauer.
Die Künstler waren immer dazu bereit, Spuren der Schicksalsschläge, der Probleme, der Notwendigkeiten, der Illusionen und der Wünsche zu hinterlassen, welche ihre Zeitgenossen beschäftigten, beanspruchten oder beeinflussten. Und genau das war es, was mehr als 100 Maler aus aller Welt im östlichen Gesicht der Berliner Mauer machten: dort darzustellen, was die Gesellschaft in jener kalten Herbstnacht wollte. Dafür benutzten sie eine der angebrachtesten Techniken für einen Ausdruck, der damals als einfache Freiheit der Straße angesehen wurde: das Graffiti. An den Wänden der Mauer der Schande, realisierte jeder einzelne auf seine eigene Art seinen persönlichen Gesang an die Freiheit und sie rissen damit die Barrieren ein, die dem spirituellen Wachstum seine Grenzen setzen.
Aus logistischen, urbanistischen, politischen, ökonomischen und moralischen Gründen wurde die Berliner Mauer praktisch niedergerissen, aber sie besteht in einigen Punkten der verwundeten Stadt als Erinnerung jener Barbarei fort. Das längste noch erhaltene Stück, mit seinen inhärenten Malereien, befindet sich in der Mühlenstrasse neben der Spree, dem Fluss der Berlin durchzieht. Seine mehr als 1300 Meter sind international unter dem Namen East Side Gallery bekannt, ein gemeinschaftlicher Raum, in dem mehr als 103 Künstler aus mehr als 20 Ländern ihre Werke hinterlassen haben.
Leider hatte die Hand des Menschen (der Vandale macht gerne jegliche Blödsinn mit einer Sprühdose), die Unbarmherzigkeit der Zeit, die Nachlässigkeit und die nagenden Lücken die East Side Gallery zu einem Ort gemacht, dem ein neuer Einsturz drohte, dieses Mal jener der Kollegialität der Kunst. Eine durch die Künstler selbst geförderte Assoziation erreichte letztendlich, dieses Zeugnis der zeitgenössischen Geschichte zu retten. Die Mauer wurde saniert und man bat die Erschaffer, dass sie erneut ihre Werke realisieren würden. Nicht alle willigten ein und „statt ihnen“ gibt es einen weißen Fleck der sie dazu einlädt, die Freude jener Tage wieder aufzugreifen. Einige der Werke sind mittlerweile Teil der aktuellen Ikonographie, wie das des russischen Künstlers Dmitri Vrubel mit dem Titel Mein Gott hilf mir diese tödliche Liebe zu überleben, auch bekannt als der Bruderkuss. Oder das der deutschen Künstlerin Birgit Kinder, bekannt als Trabi (ein Auto das die Mauer einstürzen lässt).
Die East Side Gallery befindet sich an einem nichtssagenden Ort von Berlin, direkt neben den Zuggleisen. Aber deshalb lohnt es sich hinzugehen, die Malereien abzuspazieren und sie zu betrachten, denn das ist die Kunst: Etwas scheinbar ohne Wichtigkeit, aber fundamental für die Existenz.