Dunkelheit im Herzen Europas

Von Stefan Sasse
Mitten in der europäischen Union erhebt derzeit die finstere Fratze der Autokratie ihr Haupt. Der Verfassungsprozess, der derzeit in Ungarn abläuft, ist absolut erschreckend. Nachdem die rechtskonservative Fidesz-Partei dort bei den letzten Wahlen eine Zweidrittel-Mehrheit gewonnen hat, hat sie nun die alte Verfassung unter der dünnen Prämisse, dass es sich um die alte der kommunistischen Diktatur handle, beseite geworfen. Mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit macht sie sich nun daran, eine neue Verfassung zu erschaffen. Und diese neue Verfassung hat es in sich und führt die Werte, für die die Europäische Union stehen will völlig ad absurdum. Das Schlimme allerdings ist, dass sie legal ist. Der ungarische Regierungschef Orbàn ist diesbezüglich keine Risiken eingegangen. Eine Überraschung kann diese Verfassung nach der Verabschiedung des rigiden und umstrittenen Mediengesetzes vor wenigen Monaten eigentlich kaum mehr sein: das neue Mediengesetz stellt letzten Endes die elementare Pressefreiheit unter staatlichen Vorbehalt. Was ist erst von einer Verfassung zu erwarten, die auf solcher Grundlage blüht? 
Es ist Max Steinbeis zu verdanken, dass der ungarische Verfassungsprozess, der seit der kurzen Berichterstattung über das Mediengesetz bei uns kaum thematisiert wird, wenigstens in der Blogosphäre als Thema erhalten bleibt. Ausdauernd hat er sich darum bemüht, Informationen zusammenzutragen und auszuwerten und tut das immer noch. Das ist nicht leicht, denn die Ungarn sorgen dafür, dass der Prozess so geräuschlos wie möglich abläuft, indem sie keine Übersetzungen anfertigen und eine geschlossene Informationspolitik verfolgen - und ungarisch ist weder eine einfache noch verbreitete Sprache, weswegen es äußerst schwierig ist, an Übersetzungen der Verfassung zu kommen. Inzwischen liegen jedoch einige Übersetzungen vor, die es ermöglichen, sich ein Bild zu machen. Und dieses Bild ist ein äußerst hässliches. 
Bereits in der Präambel finden sich allerlei Dinge, die vielleicht in einer Verfassung von vor 100 Jahren nicht aufgefallen wären, heute aber wie Fremdkörper wirken. Neben der Heraushebung der Heiligen Krone Ungarns fällt vor allem die weite Fassung des Ungarnbegriffs und die Herstellung einer Kontinuität zum Magyaren-Reich auf. Das ist deswegen beunruhigend, weil viele Ungarn in den angrenzenden Ländern leben, etwa im siebenbürgischen Rumänien. Wenn Ungarn anfängt, auf diese Gebiete Anspruch zu erheben, wird das für allerlei Unruhe in der Region sorgen. Ebenfalls bedenklich ist die starke Konzentration auf das Christentum als Grundlage Ungarns, während die anderen Religionen "geachtet" werden. In einem Land mit starken antisemitischen Strömungen ohne Liebe gegenüber Sinti und Roma sowie Moslems ist das nicht gerade unwichtig. 
Für die Ungarn selbst - und deswegen wird eingangs auch von Autokratie gesprochen - bringt die Verfassung schwerwiegende Einschnitte in den politischen Alltag. Viele Gesetzesarten werden unter Vorbehalt einer Zweidrittelmehrheit gestellt, was bedeutet, dass die politischen Weichenstellungen, die Fidesz bis 2014 trifft, praktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Da selbst entscheidende Personalien einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedürfen ist anzunehmen, dass die Amtsinhaber von 2014 eine ganze Weile lang im Amt bleiben werden - und welcher politischen Richtung sie angehören werden, braucht sich auszumalen nur wenig Fantasie. Die Ungarn zementieren also gerade die Herrschaft der rechtskonservativen auf absehbare Zukunft, die sich selbst im Falle einer 2014 erfolgenden Abwahl ein effektives Veto-Recht vorbehalten. Zukünftige Regierungen werden also entweder auf die eine oder andere Art den Willen der Fidesz beachten oder aber blockiert sein. So wird bald im Herzen Europas ein ständiges Anschauungsbeispiel für eine flat-tax zu beobachten sein, denn das Steuerrecht kann künftig nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. 
Am beunruhigendsten in diesem Zusammenhang aber ist das Schweigen der Europäischen Union. Es ist noch nicht allzulange her, als Österreich wegen der Regierungsbeteiligung Jörg Haiders mit Sanktionen belegt wurde. Der Rechtspopulist hat in dem Alpenland kaum bleibende Spuren hinterlassen. Ungarn dagegen steht davor, die Demokratie wenn nicht dem Namen nach, so doch faktisch abzuschaffen, und es interessiert scheinbar niemandem. Wer wird uns helfen, sollte so etwas in Deutschland passieren? Ungarn ist nicht gerade eine Großmacht. Wenn ein major player der Union auf solche Weise kippt und diese weiter business as usual betreibt - was bedeutet das für unsere Zukunft? Die selbst ernannte Freiheitsstatue der Republik im Außenamt jedenfalls glänzt ein weiteres Mal durch Schweigen und Abwesenheit. Aber ein Eingreifen hier würde auch Mut und Rückgrat und so etwas wie Prinzipien erfordern. All das findet sich bei Westerwelle und dem Rest der schwarz-gelben Regierung sicherlich nicht.

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