Du fragst: "Warum?" Und ich frage: "Warum nicht?"


Ein wunderbar frei gewachsener Baum (Quelle: Jürgen Roloff)


Ihr Lieben,
heute möchte ich Euch eine Geschichte von Heinz Körner erzählen:


„Der Baum“
Es war einmal ein Gärtner. Eines Tages nahm er seine Frau bei der Hand und sagt: "Komm, Frau, wir wollen einen Baum pflanzen". Die Frau antwortete:"Wenn Du meinst, mein lieber Mann, dann wollen wir einen Baum pflanzen". Sie gingen in den Garten und pflanzten einen Baum.

Es dauerte nicht lange, da konnte man das erste Grün zart aus der Erde sprießen sehen. Der Baum, der eigentlich noch kein richtiger Baum war, erblickte zum ersten Mal die Sonne. Er fühlte die Wärme ihrer Strahlen auf seinen Blättchen und streckte sich ihnen hoch entgegen. Er begrüßte sie auf seine Weise, ließ sich glücklich bescheinen und fand es wunderschön, auf der Welt zu sein und zu wachsen.
"Schau", sagte der Gärtner zu seiner Frau, "ist er nicht schön unser Baum?"
Und seine Frau antwortete: "Ja lieber Mann, wie du schon sagtest: Ein schöner Baum!" Der Baum begann größer und höher zu wachsen und reckte sich immer weiter der Sonne entgegen. Er fühlte den Wind und spürte den Regen, genoss die warme und feste Erde um seine Wurzeln und war glücklich. Und jedes Mal, wenn der Gärtner und seine Frau nach ihm sahen, ihn mit Wasser tränkten und ihn einen schönen Baum nannten, fühlte er sich wohl. Denn da war jemand, der ihn mochte, ihn hegte, pflegte und beschützte. Er wurde lieb gehabt und war nicht allein auf der Welt.
So wuchs er zufrieden vor sich hin und wollte nichts weiter als leben und wachsen, Wind und Regen spüren, Erde und Sonne fühlen, lieb gehabt werden und andere lieb haben. Eines Tages merkt der Baum, dass es besonders schön war, ein wenig nach links zu wachsen, denn von dort schien die Sonne mehr auf seine Blätter. Also wuchs er jetzt ein wenig nach links.
"Schau", sagte der Gärtner zu seiner Frau, "unser Baum wächst schief. Seit wann dürfen Bäume denn schief wachsen, und dazu noch in unserem Garten? Ausgerechnet unser Baum! Gott hat die Bäume nicht erschaffen, damit sie schief wachsen, nicht wahr, Frau? Seine Frau gab ihm natürlich recht. "Du bist eine kluge und gottesfürchtige Frau", meinte daraufhin der Gärtner. "Hol also unsere Schere, denn wir wollen unseren Baum gerade schneiden".
Der Baum weinte. Die Menschen, die ihn bisher so lieb gepflegt hatten, denen er vertraute, schnitten ihm die Äste ab, die der Sonne am nächsten waren. Er konnte nicht sprechen und deshalb nicht fragen. Er konnte nicht begreifen. Aber sie sagten ja, dass sie ihn lieb hätten und es gut mit ihm meinten. Und sie sagten, dass ein richtiger Baum gerade wachsen müsse. Und Gott es nicht gern sähe, wenn er schief wachse. Also musste es wohl stimmen. Er wuchs nicht mehr der Sonne entgegen.
"Ist er nicht brav, unser Baum?" fragte der Gärtner seine Frau. "Sicher lieber Mann", antwortete sie "du hast wie immer recht. Unser Baum ist ein braver Baum."
Der Baum begann zu verstehen.

Wenn er machte, was ihm Spaß und Freude bereitete,
dann war er anscheinend ein böser Baum.


Er war nur dann lieb und brav, wenn er tat, was der Gärtner und seine Frau von ihm erwarteten. Also wuchs er jetzt strebsam in die Höhe und gab darauf acht, nicht mehr schief zu wachsen.
"Sieh Dir das an", sagte der Gärtner eines Tages zu seiner Frau, "der Baum wächst unverschämt schnell in die Höhe. Gehört sich das für einen rechten Baum?" Seine Frau antwortete: "Aber nein, lieber Mann, das gehört sich natürlich nicht. Gott will, dass Bäume langsam und in Ruhe wachsen. Und auch unser Nachbar meint, dass Bäume bescheiden sein müssten, ihrer wachse auch schön langsam." Der Gärtner lobte seine Frau und sagte, dass sie etwas von Bäumen verstehe und dann schickte er sie die Schere holen, um dem Baum die Äste zu stutzen.
Sehr lange weinte der Baum in dieser Nacht. Warum schnitt man ihm einfach die Äste ab und wer war dieser Gott, der angeblich gegen alles war, was Spaß machte? "Schau her Frau" sagte der Gärtner, "wir können stolz sein auf unseren Baum." Und seine Frau gab ihm, wie immer, recht.
Der Baum wurde trotzig. Nun gut, wenn nicht in die Höhe, dann eben in die Breite. Sie würden ja schon sehen wohin sie damit kommen. Schließlich wollte er nur wachsen, Sonne, Wind und Erde fühlen, Freude haben und Freude bereiten. In seinem Inneren spürte er ganz genau, dass es richtig war, zu wachsen. Also wuchs er jetzt in die Breite.

"Das ist doch nicht zu fassen". Der Gärtner holte empört die Schere und sagte zu seiner Frau: "Stell Dir vor unser Baum wächst einfach in die Breite. Das könnte ihm so passen. Das scheint ihm ja geradezu Spaß zu machen, so etwas können wir auf keinen Fall dulden!" Und seine Frau pflichtete ihm bei: "Das können wir nicht zulassen, dann müssen wir ihn eben wieder zurechtstutzen."

Ist das wirklich noch ein schöner Baum im Sinne des Baumes?


Der Baum konnte nicht mehr weinen, er hatte keine Tränen mehr. Er hörte auf zu wachsen. Ihm machte das Leben keine rechte Freude mehr. Immerhin, er schien nun dem Gärtner und seiner Frau zu gefallen. Wenn auch alles keine rechte Freude mehr bereitete, so wurde er wenigstens lieb gehabt. So dachte der Baum.
Viele Jahre später kam ein kleines Mädchen mit seinem Vater am Baum vorbei. Er war inzwischen erwachsen geworden. Der Gärtner und seine Frau waren stolz auf ihn. Er war ein rechter und anständiger Baum geworden.


Das kleine Mädchen blieb vor ihm stehen. "Papa findest du nicht auch, dass der Baum hier ein bisschen traurig aussieht?", fragte es. "Ich weiß nicht", sagte der Vater. „Als ich so klein war wie du, konnte ich auch sehen, ob ein Baum fröhlich oder traurig ist. Aber heute sehe ich das nicht mehr. "Der Baum sieht wirklich ganz traurig aus." Das kleine Mädchen sah mitfühlend den Baum an. "Den hat bestimmt niemand richtig lieb. Schau mal, wie ordentlich der gewachsen ist. Ich glaube, der wollte mal ganz anders wachsen, durfte aber nicht. Und deshalb ist er jetzt traurig."
"Vielleicht", antwortete der Vater versonnen. "Aber wer kann schon wachsen wie er will?" "Warum denn nicht?", fragte das Mädchen. "Wenn jemand den Baum wirklich lieb hat, kann er ihn auch so wachsen lassen, wie er selber will, oder nicht? Er tut doch niemanden etwas zuleide." Erstaunt und schließlich erschrocken blickte der Vater sein Kind an. Dann sagte er: "Weißt du, keiner darf so wachsen, wie er will, weil sonst die anderen merken würden, dass auch sie nicht so gewachsen sind, wie sie eigentlich mal wollten".
"Das verstehe ich nicht, Papa!" "Sicher, Kind, das kannst Du noch nicht verstehen. Auch Du bist vielleicht nicht immer so gewachsen, wie Du gerne wolltest. Auch Du durftest nicht." "Aber warum denn nicht, Papa? Du hast mich doch lieb und Mama hat mich auch lieb, nicht wahr?"
Der Vater sah sie eine Weile nachdenklich an. "Ja", sagte er dann, "sicher haben wir Dich lieb." Sie gingen langsam weiter und das kleine Mädchen dachte noch lange über dieses Gespräche und den traurigen Baum nach.
Der Baum hatte den beiden aufmerksam zugehört, und auch er dachte lange nach. Er blickte ihnen noch hinterher, als er sie eigentlich schon lange nicht mehr sehen konnte. Dann begriff der Baum... und er begann hemmungslos zu weinen. 

Ihr Lieben,

diese Geschichte erzählt uns viel darüber, wie wir mit unseren Kindern und Enkelkindern umgehen sollten und wie wir vor allem auch mit uns selbst umgehen sollten.

Ich weiß noch, dass wir als Kinder immer abends gegen 18 Uhr zuhause sein mussten, eine richtige Erklärung dafür wurde uns aber nicht gegeben, denn zu Abend haben wir erst gegen 19 Uhr.


Dass unsere Kinder und Enkelkinder aufwachsen und wir uns an ihnen erfreuen können, ist etwas Wunderbares, etwas, das ich allen Eltern und Großeltern von Herzen gönne.

Und natürlich dürfen wir unsere Kinder und Enkelkinder nicht alles tun lassen, was sie wollen. Wenn ein zweijähriges Kind, wie mein damaliger kleiner Sohn, unbedingt ausprobieren will, ob die Herdplatte wirklich so heiß ist, dann können wir diesen Test nicht zulassen.

Aber ansonsten sollten wir unseren Kindern und Enkelkindern viel Freiraum geben, sich zu entfalten, den eigenen Weg zu geben, damit sie Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein entwickeln können.

Vor allem sollten wir uns hüten, unseren Kindern und Enkelkinder nur deshalb etwas zu verbieten, weil es uns als Kindern auch schon verboten wurde.
Es wäre wunderbar, wenn wir nicht nur unseren Kindern und Enkelkindern Freiheit zu ihrer eigenen Entwicklung geben würden, sondern auch dahin kämen, uns selbst von alten Fesseln zu befreien und uns selbst Freiheiten zu gestatten, die uns früher nicht erlaubt wurden.

Ich kenne eine alte Dame, die bereits über 80 Jahre alt ist.
Als Kind hat sie für ihr Leben gerne gemalt, aber ihre Eltern fanden das reine Zeitverschwendung und so unterblieb das Malen viele Jahrzehnte.
Jetzt, mit über 80 Jahren, malt die alte Dame mit großer Begeisterung und empfindet dabei Freude und Glück.


Ich würde mir wünschen, wenn auch Ihr so manche innere Fessel sprengen würdet und etwas machen würdet, was Ihr schon lange machen wolltet!!!

Ich wünsche Euch einen fröhlichen Nachmittag und grüße Euch herzlich aus Bremen

Euer fröhlicher Werner

Quelle: Karin Heringshausen




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