DREHBUCH ZUM HAPPY-END

Mit 33 Jahren setzt die gefeierte Schauspielerin Juliane Lorenz ihrer Karriere ein Ende. Ab jetzt zählte für sie nur noch das private Glück mit ihrem Mann. Aber nun holt die Vergangenheit sie wieder ein …

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Juliane war dabei, im Garten Unkraut zu jäten, als ein Auto vor der niedrigen Steinmauer hielt. Sie richtete sich auf, schob ihren Strohhut zurecht und stützte die Hände ins Kreuz. Ein junger Mann näherte sich, sah sie aufmerksam an und begrüsste sie dann höflich auf Deutsch: „Guten Tag, Frau Lorenz.“

Man hatte sie endlich vergessen, und so sollte es auch bleiben. Abweisend antwortete sie deshalb auf Französisch: „Ich bin Madame Gilbaud.“

Sie wollte zu ihrer Arbeit zurückkehren, aber der Fremde sagte rasch: „Ich weiss, dass Sie mit dem französischen Maler André Gilbaud verheiratet waren. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie Ihren Mann vor zwei Jahren verloren haben. Aber ich wende mich jetzt an Frau Lorenz. Ich habe alle Ihre Filme gesehen. Sie sind eine grosse Schauspielerin!“

Stirnrunzelnd sah Juliane ihn an. Kurzes dunkles Haar, graue, nachdenkliche Augen, sensibler Mund. Das Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor, aber ihr fiel nicht ein, wo sie es schon einmal gesehen haben könnte.

„Ich heisse Jörg Rebers“, fuhr er fort, „und ich habe ein Drehbuch geschrieben. Mit einer Rolle für Sie. Darf ich es Ihnen hierlassen?“ Er hielt ihr einen grossen Umschlag entgegen.

„Nein. Ich spiele nicht mehr.“

„Sie sind viel zu jung, um so etwas zu sagen!“

Darüber musste sie lachen. „Wie alt sind Sie?“

„28“.

„Und wissen Sie überhaupt, wie alt ich bin?“

„49 … und Sie sind schöner als je zuvor.“

Wenn er glaubte, sie mit Schmeicheleien beeindrucken zu können, hatte er sich geirrt. Sie sagte es ihm. War absichtlich grob.

„Es ist die Wahrheit“, protestierte er. „Sie sind aussergewöhnlich, mit einer grossen Ausstrahlung!“

Es war Zeit, das absurde Gespräch zu beenden: „Hören Sie, ich danke Ihnen, dass sie an mich gedacht haben, aber mein Entschluss steht fest. Wenden Sie sich an eine andere Schauspielerin.“

„Wenn Sie die Rolle nicht möchten, verbrenne ich das Drehbuch. Bitte, lesen Sie es wenigstens!“

Kaum hielt sie es in der Hand, fühlte sie sich erpresst: „Welch ein Unsinn auch, es verbrennen zu wollen“, murmelte sie ärgerlich.

„Ich bin noch eine Woche in Albi. Die Adresse meines Hotels und meine Telefonnummer sind auf dem Umschlag vermerkt. Jetzt will ich Sie nicht länger stören. Ich bin glücklich, dass ich Sie sehen durfte.“

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Das Drehbuch lag immer noch auf ihrem Schreibtisch. Schon aus Höflichkeit würde sie es endlich lesen müssen, denn morgen war der letzte Tag dieses jungen Mannes in Albi. Zögernd nahm sie es zur Hand. Wenn es gut war, würde sie sich dann nicht wider Erwarten zerrissen fühlen? Aber das Risiko, tröstete sie sich, war gering. Sie hatte in ihrem Leben erheblich mehr schlechte als gute Drehbücher gelesen. Morgen würde sie es mit ein paar freundlich ablehnenden Worten an der Rezeption des Hotels abgeben und die ganze Geschichte vergessen …

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Es klopfte an die Zimmertür. Jörg sprang von dem kleinen Tisch auf, an dem er arbeitete, und öffnete. „Frau Lorenz! Sie sind gekommen …“

„Es ist früh, aber ich sehe, Sie sind schon auf“, bemerkte Juliane. „Sie haben sicher besser geschlafen als ich.“

„Sie haben schlecht geschlafen? Das tut mir leid.“

„Kann es auch. Schuld daran sind Sie, oder besser gesagt Ihr Drehbuch.“

Er wurde rot. „Hat es … hat es Ihnen gefallen?“

„Haben Sie schon gefrühstückt?“

„Nein, ich habe die Morgenstunden genutzt, um zu schreiben.“

„Frühstück brauchen Sie trotzdem, und ich auch. Kommen Sie, ich kenne ein Café, in dem es ausgezeichnete Croissants gibt.“

Die Bedienung stellte zwei grosse Tassen mit Café au lait und einen Korb mit ofenfrischen Croissants auf den Tisch. Von hier aus war die mächtige Kathedrale Sainte Cécile zu sehen, die einer Festung glich und deren Steine rot in der Morgensonne flammten.

„Ihr Drehbuch ist bemerkenswert gut“, sagte Juliane.

Sein Gesicht entspannte sich augenblicklich: „Werden Sie die Rolle der Nadia spielen?“

Sie schüttelte den Kopf: „Nein, das werde ich nicht.“

„Es handelt sich um das Comeback einer Schauspielerin“, widersprach er behutsam.

„Eben. Genau das möchte ich nicht. Ein Comeback. Wie haben Sie überhaupt meine Spur gefunden?“

„Ich habe Nachforschungen angestellt über Ihre Karriere und auch über Ihr Privatleben.“ Er sagte es fast entschuldigend. „Mit knapp zwanzig Jahren hatten Sie Ihren ersten grossen Erfolg im Theater. Zwei Jahre später machte eine Filmrolle Sie weltbekannt. Mit 33 Jahren standen Sie auf der Höhe Ihres Ruhms …“

Ja, dachte sie schmerzlich. Beruflich war sie ganz oben. Und privat ganz unten. In der Liebe geriet sie immer an die falschen Männer …

„… dann hatten Sie Ihren schweren Unfall. Vier Monate Krankenhaus, anschliessend die Reha-Klinik.“

„Es war die Zeit der Besinnung, der inneren Einkehr“, sagte sie leise. „Ich stellte fest, dass ich meine wahren Freunde an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Bei einem dieser Freunde lernte ich André kennen. Er lebte und arbeitete in Südfrankreich, hier in Albi. Ich folgte ihm hierher. Ein Jahr später heirateten wir. Er war ein aussergewöhnlicher Mensch.“

„Er war zwanzig Jahre älter als Sie.“

„Er war der Vater, der mir immer gefehlt hatte. Meiner starb, als ich drei war. An Andrés Seite habe ich Frieden und Glück gefunden. Dann wurde er unheilbar krank. Zwei Jahre wurden uns beiden noch geschenkt. In der Zeit hat er seine schönsten Bilder gemalt.“

„Verzeihen Sie meine Frage. Kommen Sie finanziell zurecht?“

Juliane Lorenz lächelte amüsiert: „Ich habe genug zum Leben. Ausserdem habe ich das Haus. Ich ziehe mein Gemüse, mein Obst.“ Sie lachte und wurde dann wieder ernst. Sie dachte daran, dass sie ab und zu ein Bild von André verkaufen musste, und wie schwer ihr das fiel.

Er schüttelte den Kopf. „Nur ganz wenige spielen wie Sie. Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Sie sind einfach zu gut als Künstlerin, um sich schon zurückzuziehen.“

„Was wissen Sie schon vom Leben?“ Kaum war ihr das herausgerutscht, tat ihr die Bemerkung leid. Ein solches Drehbuch konnte keiner schreiben, dem das Leben nicht selbst Wunden zugefügt hatte.

„Wir haben zumindest eines gemeinsam“, erwiderte er. „Ich hatte auch keinen Vater. Meine Eltern sind geschieden, und ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen. Zum Glück hatte ich später in ihrem zweiten Mann einen wunderbaren Ersatzvater.“

„Haben Sie Ihren leiblichen Vater nie wiedergesehen?“

„Viel zu selten. Er war zu beschäftigt.“

Eine kleine Stille entstand. Dann sagte er: „Wenn Sie die Nadia spielen, werde ich das Drehbuch Volker Burghardt zuschicken, mit der Bitte, es zu lesen.“

Volker Burghardt, der berühmte Regisseur mit der internationalen Karriere. In ihren grossen Jahren hatte sie drei Filme mit ihm gedreht. Sie hatten sich gut verstanden. Und Volker war bekannt dafür, dass er gern jungen begabten Leuten eine Chance gab.

Sie sagte es ihm, und er erwiderte bitter: „Ja, nur für seinen eigenen Sohn interessierte er sich nie!“

Sie erinnerte sich, dass Volker tatsächlich einen Sohn hatte. Wie alt mochte er jetzt sein? Was war aus ihm geworden? Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Diese Ähnlichkeit! Die gleichen forschenden Augen, der gleiche sensible Mund. Und hiess er nicht Jörg?

„Sie sind sein Sohn!“ rief sie aus.

Er nickte.

„Aber … warum heissen Sie Rebers?“

„Ein Pseudonym.“

„Haben Sie ihm nie gezeigt, was Sie schreiben?“

„Dies ist die erste Arbeit, auf die ich stolz bin.“

„Dann holen Sie das jetzt nach“, entschied sie.

„Sie… Sie werden also die Nadia spielen?“

„Muss ich ja wohl nun“, erwiderte sie trocken und fühlte sich, als sei sie schon wieder in eine Falle getappt. Aber wenn schon. Wenn sie ehrlich war mit sich selbst, hatte sie wohl insgeheim gehofft, dass es Jörg gelingen würde, sie zu überzeugen …

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Sechs Wochen später klingelte das Telefon. Es war Volker Burghardt: „Juliane, wie geht es dir?“

„Gut“, erwiderte sie. „Und dir?“

Er kam rasch zur Sache: „Juliane, ich habe das Drehbuch eines jungen Autoren erhalten. Ich bin jetzt erst dazu gekommen, es zu lesen. Er schreibt mir, dass du bereit bist, die Hauptrolle zu spielen. Ist das richtig?“

„Ich hatte es ihm versprochen. Wie findest du das Drehbuch?“

„Ausgezeichnet. So gut, dass ich bereit bin, Regie zu führen. Ausserdem weißt du, dass ich immer gewünscht habe, wieder mit dir zu arbeiten.“

„Ich weiss, Volker. Du hast es mir gleich nach meinem Unfall gesagt. Und wiederholt, als ich aus der Reha-Klinik entlassen wurde. Und nachher noch einmal nach Andrés Tod. Du warst immer ein guter Freund.“

„Und du hast mich immer abblitzen lassen. Was hat dieser Jörg Rebers getan, damit du deine Meinung änderst?“

„Er hat mich erpresst!“ Sie stellte sich vor, wie Volker jetzt die Stirn runzelte, und musste lachen: „Hör zu, ich hab’ mich gern erpressen lassen. Ausserdem mag ich den Autor und möchte ihm helfen. Hast du seine Adresse?“

„Natürlich.“

„Dann gib sie mir bitte. Ich möchte euch beide hierher einladen. Ist dir das recht? Wann kannst du dich frei machen?“

„Für dich jederzeit.“

„Ich liebe deine Galanterie, aber ich weiss, wie beschäftigt du bist.“

„Ich habe beschlossen, Ferien zu machen.“

„Fein. Kannst du in drei Tagen hier sein? Am Samstag?“

„Kein Problem. Ich freue mich auf dich, und ich bin sehr gespannt auf den Autor.“

„Das kannst du sein“, erwiderte sie vergnügt.

Samstag um elf holte sie ihn in Toulouse vom Flughafen ab. Volker sah sie lange an: „Du warst immer schön, Juliane, aber jetzt leuchtest du richtiggehend von innen.“

„Seltsam, so ähnlich hat sich auch der Autor ausgedrückt. Übrigens, du siehst auch gut aus.“

Es war die Wahrheit. In Volkers dunkelblondes Haar mischte sich jetzt etwas Grau, aber es stand ihm gut.

Er lächelte ihr zu: „Ist Jörg Rebers schon da?“

„Er ist gestern Abend angekommen.“

„Wie ist er?“

„In Ordnung. Sehr reif für sein Alter. Seine Achillesferse ist sein Vater. Er fehlt ihm, seit seine Eltern sich haben scheiden lassen.“

„Wie vielen Jungendlichen“, meinte der Regisseur nachdenklich. „Um meinen eigenen Sohn habe ich mich auch nicht so gekümmert, wie ich es hätte tun sollen. Ich war zu jung, als er geboren wurde. Dann begann meine Karriere, und ich war noch seltener zu Hause. Unsere Ehe ist daran zerbrochen. Der Junge war mir immer fremd, und seit einigen Jahren habe ich ihn vollends aus den Augen verloren. Jetzt tut es mir leid, aber es ist wohl zu spät …“

„Es ist nie zu spät im Leben“, meinte Juliane und liess den Motor an.

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Jörg erwartete sie vor dem Haus. Behutsam sagte Juliane: „Ich glaube, ich brauche euch nicht miteinander bekannt zu machen …“

Sie gab vor, eine dringende Besorgung machen zu müssen, und liess Vater und Sohn allein. Als sie von einem langen Spaziergang zurück kam, hatten die beiden das Drehbuch vor sich liegen. Volker sagte gerade: „Warum hast du es mir nicht unter deinem richtigen Namen zugeschickt?“

„Liegt das nicht auf der Hand? Ich wollte, dass du es unvoreingenommen liest.“

Nach dem Abendessen sassen sie noch lange auf der Terrasse. Die Mauern des Hauses atmeten die Wärme des Tages aus. Es duftete nach Thymian und Lavendel, die Grillen zirpten, und inmitten der südlich hellen Sterne stand der Mond als Sichel hoch im Himmel.

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Am Montag musste Jörg wieder fahren. Volker hatte Juliane gefragt, ob er ihre Gastfreundschaft noch ein wenig in Anspruch nehmen dürfte. Er war beeindruckt von der Schönheit und der reichen, oft dramatischen Geschichte des Languedocs. Tagsüber besichtigten sie die Gegend. Abends sassen sie bei einer guten Flasche Wein auf Julianes Terrasse und führten lange Gespräche.

Volker meinte nachdenklich: „Jetzt wo ich dank dir meinen Sohn wiedergefunden habe, scheint es mir, als lernte ich auch mich besser kennen. Er hält mir einen Spiegel vor. Ich sehe mich selbst in seinem Alter wieder.“

„Hast du noch Verbindung zu Jörgs Mutter?“

„Kaum. Sie hat damals nach ein paar Jahren wieder geheiratet. Einen Arzt, der sich um Jörg wie um einen eigenen Sohn gekümmert hat. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.“

„Und trotzdem suchte er dir, seinem leiblichen Vater, näher zu kommen. Verzeih, aber mich macht das wütend. Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Ich habe mir so sehr, und leider vergeblich, ein Kind von André gewünscht …“

„Du bist also sehr wütend auf mich?“

Sie seufzte und lachte dann: „Es wird ja nun alles gut.“

Er schenkte Wein nach, trank einen Schluck und sagte leise: „Ich muss dir etwas gestehen. Ich war geradezu besessen von dir, als wir die drei Filme zusammen machten. Ich fühlte, dass ich dich lieben könnte, wie ich noch keine andere Frau geliebt habe.“

„Das habe ich nie gemerkt …“

„Ich habe es auch nie gezeigt. Du warst zu schade für ein Abenteuer, und das einzige, was ich nach der Scheidung wollte, waren Abenteuer. Ich hatte Angst vor der Liebe. Ausserdem warst du verheiratet. Mit diesem unmöglichen Werner, der dein Geld in allen Casinos Europas verspielte …“

Sie zuckte die Schultern. „Um das Geld tut es mir nicht leid. Und ohne die Enttäuschung mit Werner und den Unfall hätte ich sicher André nicht kennen gelernt. Insofern ist es gut, wie es gekommen ist.“

Sie sah ihn an. Volker war ein gutaussehender Mann mit einer ganz besonderen Ausstrahlungskraft. Sie betrachtete seine muskulösen Unterarme, die kräftigen Hände. Plötzlich merkte sie, dass ihr Herz schneller schlug und eine süsse Schwere in ihre Glieder fuhr. Auch er sah auf ihre Hände. Sie waren braun und spröde von der Sonne und der Gartenarbeit. Er nahm sie in die seinen und lächelte: „Ich liebe deine Hände.“ Und dann inbrünstig: „Ich liebe dich, Juliane.“ Und diese Worte kamen aus seiner tiefsten Seele.

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Am nächsten Morgen sah sie lächelnd auf den Mann hinunter, der neben ihr schlief. Ja, auch sie liebte Volker. Aus tiefstem Herzen. Nach Andrés Tod hatte sie geglaubt, nie mehr einen Mann lieben zu können. Diese Nacht hatte sie in Volkers Armen die Wiedergeburt ihres Körpers erlebt.

Er schlug die Augen auf, zog sie lächelnd zu sich herunter. Und wieder geschah das Wunder der Liebe.

Jörg hat Recht, dachte sie später glücklich. Sie war zu jung, um schon ein Leben in Abgeschiedenheit zu führen. Es gab noch so viel zu verschenken und zu empfangen, zu lernen und zu entdecken. Mit Volker zusammen. Und Jörg, der jetzt auch so etwas wie ihr eigener Sohn war …

ENDE


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