Zusammen sind sie 48 Jahre alt – die Zwillingsschwestern Cassandra und Judith Edwards. In wenigen Tagen würde Judith heiraten. Es ist der 21. Juni und Cass fährt zügig los in Berkely, drückt richtig auf die Tube, um rechtzeitig am Abend auf der Ranch bei ihrer Familie anzukommen. Es würde glühend heiß sein zu Hause und es würde schön sein, sie alle wiederzusehen. Hund, Katze, Dad, Granny und … Judith. Ihre Mom war vor drei Jahren überraschend gestorben. Den Bräutigam kannte Cass nicht. Hieß er Lynch oder Finch? Und konnte Cass zulassen, dass Judith einen unbekannten Medizinstudenten aus New York heiratete und damit das unsichtbare Band zerriss, dass die beiden eineiigen Zwillinge in ihrem bisherigen Leben aufs Engste miteinander verbunden hatte?
Eine Frage, die sich als roter Faden durch die Geschichte zieht, denn was Judith leicht fällt – endlich die einengende Symbiose mit ihrer Schwester zu beenden – fühlt sich für Cassandra wie ein langsamer schmerzhafter Tod an.
Dorothy Baker lässt mich in die Rollen beider Schwestern schlüpfen, indem sie mehrmals die Erzählperspektiven wechselt. Während Judith entspannt und ruhig auf den nächsten Tag schaut, wirkt Cassi hochsensibel und auf sympathische Art leicht überdreht. Das wird vielleicht am besten deutlich, wenn ich Cassi selbst reden lasse: Wenn ich eine Prophetin wäre, hätte ich keine Anhängerschaft, denn meine Lehre wäre eine zu wilde Mischung. Ich bin eine existenzialistische Zen-Marxistin Freud’scher Ausrichtung (S. 75). Ganz anders sieht Cassi ihre Schwester: Judiths ureigenste Natur ist Gelassenheit, sie ist sämtliche östliche Religionen in Person, die Angespannte bin ich (S. 108). Und das mag ich so an Cassi, ihre absolute Ehrlichkeit sich selbst und auch anderen gegenüber. Für die 60er Jahre ist sie aufregend frech, witzig, lakonisch. Ein ganz untypisches junges Mädchen. Sie trägt liebend gern Sweatshirts und Turnschuhe, zieht dieses Outfit jedem Kleid vor. Doch hat sie sich zur Hochzeit, um Granny einen Gefallen zu tun, ein zartes weißes Kleid aus edler Spitze gekauft. Mit Grannys Kreditkarte. Ausgerechnet dieses Kleid führt später zu einer dramatischen Wendung der fröhlichen Hochzeitsstimmung.
Doch vorerst scheint alles gut, und besonders Granny ist in heller Vorfreude. Mit liebevollen großmütterlichen Bemerkungen schwebt diese sympathische kleine Frau durch die Story. Ganz im Gegenteil dazu der schweigende Vater. Für ihn ist nur wichtig, dass Eiswürfel in seinem Glas klirren und der nächste Hennessy Cognac bereit steht. Eine seiner Töchter heiratet? Okay, dann wird wohl noch eine Kiste Champagner gebraucht … Anfangs zurückhaltend und die kleine Familie wohlwollend beobachtend, wird “der unbekannte Medizinstudent” und zukünftige Mann von Judith (er heißt John Thomas Finch) später zum heldenhaften Lebensretter.
Dorothy Parker hat diesen außergewöhnlichen Roman 1962 geschrieben. Wie beste Freundinnen, so stehen Cassandra und Judith Edwards für mich neben der Collegestudentin Esther Greenwood aus dem Roman “Die Glasglocke” (1963), neben Carol und Therese aus “Salz und sein Preis” von Patricia Highsmith (1952) und irgendwie auch neben Holden Caulfield aus “Der Fänger im Roggen” von J.D. Salinger (1951). Ich bin sicher, sie alle hätten sich gemocht in ihrer Art anders zu denken, zu fühlen und zu handeln. Wie alle diese Romane mich sehr bewegten, so hat mich auch “Zwei Schwestern” zutiefst berührt, unglaublich erheitert und auf sanfte Art getröstet.
Peter Cameron, der ein wunderbares Nachwort für diesen Roman geschrieben hat, fragt sich, was eigentlich so bewegend ist an dieser auf den ersten Blick eher unscheinbaren Geschichte. Für ihn ist es die absolute Aufrichtigkeit der Hauptfigur Cassandra Edwards und der hervorragende Stil der Autorin. Die Lektüre von “Zwei Schwestern” berühre die Seele, sei eine berauschende Erfahrung. Bakers brillanter Roman … hat mich überrascht, ins Mark getroffen, mir den Atem geraubt, und die Stromschläge, die fast von jeder Buchseite ausgehen, haben meinen Verstand auf Hochtouren gebracht (S. 274).
Wer die Geschichte lieber hören möchte, dem sei das Hörbuch (gelesen von Birgit Minichmayr) empfohlen. Erschienen ist es bei DAV (Der Audio Verlag). 19,99 €
Dorothy Baker. Zwei Schwestern. Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum. Mit einem Nachwort von Peter Cameron. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG München 2015. 278 Seiten. 19,- €