Doch nur ein neuer Sloterdijk

 

Asche auf mein Haupt. Mea culpa - dreifaches Repetitio, ohne maxima, man soll es nicht übertreiben. Was habe ich mich in diesem Precht getäuscht! Als er Anfang September in seiner neuen nächtlichen Sendung mit Hüther sprach, war bei allem Leerlauf dazwischen, beim Bildungsfetisch beider Herren, doch wenigstens etwas entstanden, was man im Fernsehen sonst eher selten sieht: Niveau. So ein bisschen davon jedenfalls. Und dann kam Döpfner - und dann kam auch noch Lindner! Und schlimmer noch die dazugehörigen Themen! Freiheit bei dem einen, Gerechtigkeit bei dem anderen! So viele Ausrufezeichen in meiner Schreibe! Das gehört sich nicht, ich gebe es zu. Sowas ist eigentlich ein stilistischer Missgriff. Aber was soll man denn machen?
Als der Vorstandsvorsitzende von Axel Springer bei ihm zu Gast war und über eine Freiheit schwadronierte, die alle Gazetten Springers ansonsten in Grund und Boden schreiben, da fragte ich in einem sozialen Netzwerk zynisch, wer als nächstes kommen würde. Kissinger vielleicht, der mit ihm über Menschenrechte fachsimpelt? Oder etwa Breivik zur Frage Was ist Nächstenliebe? Man glaubt es kaum, die Realität ist noch zynischer, noch phantastischer, als phantasievolle Zynismen. Er lud Lindner ein und ging mit ihm der Frage nach Was ist gerecht? Ich gebe es an dieser Stelle auf, höhnische Vermutungen aufzustellen, wer da wohl als nächstes Experte sein darf. Die Wirklichkeit schlägt mich da um Längen!

Philosophie: die Liebe zur Weisheit, der Hang zur Wahrheit. Der Philosoph: der, der die Wahrheit liebt, weil sie weise ist. Ist der Philosoph noch Philosoph, wenn er irgendwelche Knotenfurze einlädt, die mit der Wahrheit ungefähr so im Bunde stehen, wie der Teufel mit der Liebe? Kann man jemanden einen Philosophen nennen, der im neoliberalen Agitprop geschult ist und den auch anwendet? Andererseits war es doch immer auch Teil deutscher Philosophisterei, sich mit der Macht zu brunften, sich an ihrer wundzurammeln, sie mit formvollendeten Rezitationen zu deflorieren. Man warf das zuweilen Hegel vor, der dem preußischen Autoritätsstaat historische Aufträge erteilte - und dann ist da noch der, dessen Sein und Zeit es war, sich wenigstens eine Weile den Nationalsozialisten, der "Bewegung" wie er sie nannte, anzudienen. Philosophie mag in deutschsprachigen Gegenden auch immer mit Liebe zur Macht übersetzbar gewesen sein. Denn Wahrheit und Macht, so lehrt es der Geist der deutschen Selbstwertlosigkeit, sind eigentlich dasselbe. Bares ist Wahres - und Macht, auch wenn wir das in unserem Vor-dem-Gesetz-sind-alle-gleich-Staat nicht gerne laut sagen.
Mea culpa. Wie habe ich mich da getäuscht! Nachdem Hüther zu Gast war, konnte man ja nicht ahnen, wohin die Prechterei weist. Hätte man es wissen können? Precht war (oder ist?) der Sohn von Eltern, die sich eher im linken politischen Spektrum heimisch fühlten. Stimmt die simple These, wonach Kinder immer den Bruch mit der elterlichen Lebenswirklichkeit suchen, so ist sein Dialog mit Gestalten des amtierendes Regimes, mit Leuten, die von den jeweiligen Themenblöcken so weit enteilt sind, wie die osteoporösen Gebeine der konservativen Tea-Party-Bewegung von der liebeswert durchgedrehten Teegesellschaft des verrückten Hutmachers in Carrolls Märchen ... stimmt diese These also, so ist das Gespräch mit solchen Geschöpfen nur folgerichtig.
Man könnte die Philosophie retten wollen und behaupten, Precht sei gar kein Philosoph. Philosophen haben Werke hinterlassen. Selbst Erdachtes mit Einsprengseln anderer Denker aufs Papier gebracht. Precht interpretiert nur Wissenschaft und Philosophie, er greift ab, was andere geschrieben und erforscht haben, ist also nur ein Lehrstuhlphilosoph, kein freischaffender Denker. Das ändert aber nichts an seiner Stellung. Er ist der neue Sloterdijk, der neue GEZ-finanzierte Rechtfertiger eines Systems, das sich selbst mit GEZ-finanzierten Sophisten als annehmbar und gut darstellen muss. Als Schreiber war Precht durchaus imponierend, hat unterhalten und zugleich informiert, hat Philosophie populär gemacht - und dann stolpert er mit seiner Sendung auf die politische Bühne und offenbart sich ideologisch. Si tacuisses ... si tacuisses ...
Ich hätte es wissen können. Denn wie ich oft in seinen Büchern las, hat Precht ein Faible für Hirnforschung. Das ist an sich nicht verwerflich. Ich finde das Thema auch interessant, würde die Herkunft meines diesbezüglichen Interesses gerne mal hirndurchforscht wissen. Aber wenn ich nun zurückdenke, was ich bei ihm las, dann sind da schon doppeldeutige Momente. Hinterher ist man immer schlauer. Hinterher fällt einem ein, dass die Knietätschelei zwischen Gattin und Nachbar vielleicht doch kein Zufall war. Dann hat man eigentlich und innerlich immer schon gewusst, dass sie es mit ihm trieb.
Manchmal schien es so, als wünsche er sich eine Welt, die verhirnforscht ist, das heißt, die unmittelbar auf die Ergebnisse dieser Disziplin aufbaut und die Erkenntnisse alltagstauglich macht. Welches Menschenbild entwirft sich aber eine Gesellschaft, die den Menschen als determiniertes und rein impulsgesteuertes Gehirn mit drunter angebrachten Körper enttarnt? Vielleicht lügt sich die humanistische Denkweise selbst an, wenn sie eine total (und totalitär!) verwissenschaftlichte Sicht auf den Menschen ablehnt. Den Menschen als biologische Apparatur zu erklären mag ja nicht grundsätzlich falsch sein - ihn als hormonell betriebenen Duracell-Hasen zu sehen, ist wahrscheinlich sogar nachvollziehbar und beschränkt richtig. Der Humanist leugnet das aber und belügt sich womöglich selbst. Und ich glaube, das ist auch gut so. Der Mensch muss sich über bestimmte Abläufe in seinem Körper zwar bewusst sein, sollte sie aber leugnen und wegschieben können. Wenn der Mensch nicht mehr als ein motorisierter Organismus ist, dann verliert er seinen Wert, dann schwindet der Würdebegriff, dann wird er austauschbar, geht die Einzigartigkeit jedes menschlichen Wesens flöten. Der Mensch ist vermutlich nur besonders, wenn er sich sein Mysterium bewahrt, wenn er seine biologische Stellung in der allgemeinen Biologie leugnen kann, um seiner Selbstwert willen. Hier winken mal wieder Sartre und Camus hervor, die den Menschen als einziges Wesen sahen, das sein könne, was immer es wolle.
Ich unterstelle Precht nicht, dass er dieses Weltbild favorisiert und antreibt. Aber eine klare Abgrenzung hierzu scheint er auch nicht hinterlassen zu haben. Es entsteht hieraus vielleicht etwas wie stillschweigende Zustimmung zu einem Weltbild, das sich der Neoliberalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Hirnforschung befasst sich nicht selten mit Effizienz, damit den Hirnbesitzer, also den Menschen, effizienter zu konstituieren, ihm begreiflich zu machen, was in ihm vorgeht, um ihn schneller verarbeiten zu lassen; Liebeskummer ist dann beispielsweise nichtig, er wird zur Ausschüttung von Stoffen, die bestimmte Reaktionen erzielen, zu einer chemischen Handlung. Der Traum der Wissenschaft ist hier nicht nur das Verständnis, sondern gleichfalls einen Weg zu finden, die üblichen Hindernisse des Menschseins, diese störenden Impulse für das Leben als Konsument und Arbeitskraft, aus dem menschlichen Katalog zu verbannen. Wie gesagt, nicht dass Precht das wollte. Aber seine Begeisterung für diese Wissenschaft korreliert blendend mit den Effektivierern der neoliberalen Weltanschauung.
Gleichwohl ist Hirnforschung spannend, was aber geschieht, wenn man diese Disziplin nicht einordnet und ihr den Wind aus den Segeln nimmt, ist die Hirnzerforschung des Menschen. Eigentlich ist es der Philosophen Aufgabe, Wissenschaft in das Nest der Philosophie zu betten, sie also mit Weisheit auszustatten und sie auf den Boden des Alltags zurückzuholen. Jedenfalls definierte sich Philosophie selbst so, als sie aufgrund der Verwissenschaftlichung der Welt zunächst für entbehrlich gehalten wurde. Hier versagt Precht zweifelsohne. Und ich habe das nie so richtig bemerkt. Seine politische Offenbarung in Gestalt einer sich philosophisch gebenden Sendung, eröffnen plötzlich Sichtweisen, die ich vorher nicht erkannte.
Man könnte auch vermuten, dass philosophische Betrachtungen in diesem System nur noch der Öffentlichkeit zugetragen werden, wenn sie eindeutig politische Stellung pro status quo beziehen. Sie bekommen eine Sendung, Precht, wenn Sie mit Döpfner und Lindner sprechen, sie mal politisch rausputzen und geisteswissenschaftlich aufwerten! Wäre es dann nicht philosophischer gewesen, erst gar keine Sendung haben zu wollen? Aber ich halte das für ausgeschlossen. Precht brachte mit, was man im neoliberalen Rechtfertigungsfernsehen benötigt. Er nahm nicht hin, was man forderte, er hatte in sich, was sie brauchten, um wieder mal einen Philosophen für das Nachtprogramm zu haben, dessen persönliche Aufklärung es ist, selbstverschuldet in seine Unmündigkeit zu stürzen.
Ach hätte er nur geschwiegen, dann wäre er Philosoph geblieben ... und hätte ich mal geschwiegen, diesen Mann und seine Sendung für "nicht schlecht" zu bezeichnen ...


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