Disziplin durch Abstinenz

Der zechenden und schmauchenden Unterschicht soll es an den Kragen gehen! Kein Geld mehr für Alkohol und Zigaretten auf Konten von Langzeitarbeitslosen zu überweisen, fordern nun etliche lasterlose Herrschaften aus Politik und Wirtschaft. Hartz IV soll den Grundbedarf abdecken, erklären diese, in den Alkohol und Tabak als Genussmittel nicht dazugehörten. So einfach ist dieses Erklärungsmodell allerdings nicht.

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Photo: jphilipg


Abstinenz der kleinen Zahlen
Es handelt sich um ein Spiel mit Peanuts: 11,58 Euro sind im derzeitigen Regelsatz für Zigaretten, 7,52 Euro für Alkohol vorgesehen. Bildlicher ausgedrückt: Zwei Packungen Zigaretten und fünf bis sieben 0,5 Liter-Flaschen besseren Bieres sind monatlich eingeplant. Ein Lotterleben sieht anders, sieht wesentlich üppiger aus. Bedenkt man zudem, dass pro erworbener Zigarettenschachtel etwa 75 bis 85 Prozent des Verkaufspreises an den Fiskus erstattet werden, so überrascht der Aktionismus umso mehr. An der relativ geringen Summe, die zudem größtenteils in die Steuerkasse zurückfließt, kann es jedenfalls nicht liegen, dass plötzlich Bier und Tabak zur Diskussion stehen. Dahinter steckt mehr: die falsche Auslegung des Sozialstaatsgedankens und damit einhergehend ein symbolischer Akt, den man dem schmalen Geldbeutel der Hilfebedürftigen abringt.

Der disziplinierende Sozialstaat als Folge falscher Prämissen
Das Sozialwesen, in effigie das Sozialgesetzbuch (SGB), kennt keine unmittelbare disziplinierende Absicht - jedenfalls keine, die nicht direkt an der Inanspruchnahme sozialer Leistungen gebunden ist. Zweck ist, "ein menschenwürdiges Dasein zu sichern; gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen; die Familie zu schützen und zu fördern; den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen" (SGB I § 1 Aufgaben des Sozialgesetzbuchs). Zwar wird an dortiger Stelle auch von "erzieherischer Hilfe" gesprochen. Gemeint ist damit aber nicht ein pädagogischer oder disziplinierender Auftrag seitens der Behörden, ins Privatleben der Hilfebedürftigen schulmeisterlich hineinzureden - gemeint sind Hilfestellungen in Erziehungsfragen.
Der neue Sozialstaat, wie er vielen Reformern in den Köpfen umhergeht, will nicht lediglich Teilhabe sichern - eher soll dieses Aufgabenfeld verkleinert werden! -, er will die Bittsteller erziehen, will sie kontrollieren, sie disziplinieren und ihre Anlagen verändern, sie zu Büßern formen. Hieran wird von einer fehlerhaften Prämisse ausgegangen: Süchte seien die Sache der Unterschicht, Alkoholismus und ausschweifender Zigarettenkonsum seien die Laster des kleinen, des armen Mannes. Konsequent wird dabei die Schichtdurchlässigkeit der Suchtproblematik übersehen - nicht nur Armut oder Arbeitslosigkeit spornen zum Saufen an, gleichermaßen sind beispielsweise Berufsstress oder Ehesorgen Faktoren. Alkoholismus und sonstiges Suchtverhalten sind keine Milieuschäden - die gesamte Gesellschaft ist damit durchwoben.
Der Grundgedanke, Hilfebedürftige nicht nur teilhaben zu lassen, sie auch einer schwarzen Pädagogik, einer Disziplinierung zu überschreiben, existiert schon seit geraumer Zeit - in den letzten Jahren hat diese Sicht Aufwind erfahren. Somit war nicht der Langzeitarbeitslose Opfer wirtschaftlicher oder arbeitsmarktbedingter Entwicklungen, Leidtragender einer Krankheit oder sonstiger Hemmnisse: er war nur schlecht erzogen und damit für den Arbeitsmarkt unbrauchbar und mangelhaft (geworden). Diese Denkart ist die Basis dafür, dass sich das Sozialwesen mit sozialwesensfremden Elementen und Personen aufgeladen hat: mit Coaches und Lebensberatern, Ratgebern und Mentoren. Nicht nur die nach dem SGB ausgerichtete Hilfebedürftigkeit - das gilt verstärkt für das SGB II - ist demnach Gegenstand zwischen Behörde und leistungsberechtigten Bürger: dessen Lebensführung, dessen Lebenstil, dessen Benehmen und teils dessen Gesinnung geraten ins behördliche Blickfeld.
Überwachen und Strafen
Michel Foucault behandelt in seinem 1975 erschienenen Buch Surveiller et punir (Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses) die Entwicklung des modernen Strafsystems und malt dabei ein Bild vom Wandel der Strafnormen: von der Marter hin zur Strafnüchternheit; von der unmittelbaren körperlichen Bestrafung hin zur Disziplinierung; von der Leibesstrafe auf dem Schafott hin zur disziplinierenden Zeitplanung im Gefängnis. In dieser strafnüchternen Tradition steht der disziplinierende Sozialstaat heutiger Prägung; steht die Armenverwaltung nach SGB II - das Sozialwesen ist zum Strafwesen und damit zum Disziplinierungswesen degradiert. Dem Sozialstaat wurden im Laufe der Jahre Repressionsrezepte an die Hand gegeben, damit er nicht nur Teilhabe sichern, sondern den jeweiligen Menschen "zurück auf die rechte Bahn geleiten" kann.
Die Bestrafung erhält in Foucaults Rückschau einen disziplinierenden Auftrag - der Richter ist dabei nicht mehr nur Richter, er muß nicht einfach plump die Straftat sanktionieren; er hat den Täter als Individuum zu sehen, muß dessen Zukunft anhand sachverständigen Rates ins Auge fassen; nicht nur richten, sondern erzieherische und disziplinierende Aspekte berücksichtigen. Dies läßt sich auf die Reformer des Sozialstaats weiterspinnen und übertragen: für viele stellt das, was volkstümlich Hartz IV genannt wird, einen Form des offenen Vollzugs dar. Das mag übertrieben und dramatisierend klingen, jedoch reiht sich die Umsetzung der hiesigen Arbeitslosenverwaltung, mitsamt ihren allerhand disziplinierenden Maßnahmen, nahtlos in Foucaults Galerie ein. Der körperlichen Marter, so erläutert er, sei die seelische Züchtigung des Körpers gefolgt - körperliche Strafe durch Disziplinierungsmodelle; Hartz IV ist keine Marter, keine unmittelbare Leibesstrafe, will ohne gewaltsamen Körperkontakt drillen, was jedoch selbst dann körperliche Disziplinierung bleibt - denn auch die Sperre von Bezügen wirkt sich körperlich aus. Die direkte Gewalt ist gewichen, hat der Disziplinierung ohne körperlicher Gewalt Spielraum erteilt. Diese "körperlose" Form der Strafe - und es ist bezeichnend und traurig, dass wir das Sozialwesen unter den Aspekten der Bestrafung bewerten müssen! - ist das Produkt der Macht, die sich heute nicht mehr physisch an jene wendet, die sie bestrafen will. Sie arbeitet heute mit symbolischer Gewaltschau: "Die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn [Anm.: den Körper]; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen." Ein solches Zeichen soll der symbolische - durch Entzug eines Quäntchen Regelsatzes - Verzicht auf Alkohol und Zigaretten sein. Ein Zeichen von nur kleiner Tragweite, von umgerechnet 19,10 Euro, das man den Verfechtern der wiederbelebten Abstinenzbewegung, eher symbolisch denn handfest darzubringen hat.
Symbolische Unterwerfung
Es geht nicht um die kleine Summe selbst, nicht darum, dass einige Flaschen Bier und zwei Schachteln Zigaretten im Monat zu teuer wären. Dahinter ist eine symbolische Geste zu vermuten, die vom Arbeitslosen ausgeführt werden soll. Eine Geste, die der puritanischen Ethik entstiegen ist. Dabei wird sich auf Stereotype gestützt, die seit geraumer Zeit verstärkt zum Einsatz kommen - zwei Widerparte, die künstlich gegeneinander positioniert werden: dem faulen, sittenlosen, tagesstrukturarmen, verwahrlosten Erwerbslosen stellt man eine Gestalt gegenüber, die es so nicht gibt: den fleißigen, sittsamen, durchstrukturierten, gepflegten Erwerbstätigen, der nebenher auch noch der Ernährer seines negativen Gegenentwurfes ist. Schwarz und weiß; gut und böse!
Darauf läßt sich ein disziplinierendes Sendungsbewußtsein türmen. Der negative Bürgerentwurf ist an den positiven Bürgerentwurf anzugleichen - das Sozialwesen ist damit ganz im Sinne Foucaults zu einer schleifenden und drillenden Instanz geworden, die überwacht und straft, um ihre gewünschten Lernziele umzusetzen, Lebensentwürfe im Sinne der gesellschaftlichen Normen bestmöglich anzugleichen. Der Verzicht des Lotterhaften, um damit den Tugendhaften näherzukommen, ist daher eine symbolische Handlung, ein quasi-zeremonieller Akt, der den zu Belehrenden endlich wieder auf die tugendhafte Bahn geleiten soll. Der zu disziplinierende Schüler hat den Beweis vor aller Augen zu erbringen, fortan keine Unterstützung für seine Laster mehr erfahren zu wollen - denn dem Laster selbst, wenn es dieses überhaupt gibt, kann man leider nicht moralisierend Einhalt gebieten.
Müßiggang ist aller Laster Anfang - der pädagogische Sozialstaat will wenigstens das resultierende Laster eingrenzen. Er ist nicht mehr normenneutral, blind für die Vorlieben und Lebensvorstellungen und -einstellungen seiner Hilfebedürftigen - er ist bewertend und parteiisch, er ist nicht weltanschaulich neutral, versucht zu disziplinieren, den aus dem Produktionsverfahren ausgeschiedenen Menschen auf die wirtschaftlich bevorzugten Normen und Ideale einzuschwören. Somit wandelt er auf den Spuren spießiger Sittlichkeitsbewegungen, die vor 120 Jahren dazu aufriefen, das Elend durch einen neuen Sittlichkeitkodex zu beenden.
Das Wiedererwachen des Temperenzler
Eine angeblich mangelnde Tugendhaftigkeit war es, was die Enthaltungs- oder Temperenzbewegung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert dazu veranlasste, für eine strikte Ablehnung des Alkohols einzutreten - am Ende stand die Alkoholprohibition in den USA und ein viel wüsteres Gemeinwesen als jemals zuvor; die moralisch einwandfreie Gesellschaft, die Suchtverhalten gesetztlich verboten hatte, wurde zum eigentlichen Sodom und Gomorrha - zu jenen Orten also, die bibelfeste Abstinenzler vormals in einer Gesellschaft, in der Alkoholtrinken erlaubt war, schon erkannt sehen wollten. Der Alkoholkonsum stellte für die durchweg bürgerlich initiierten Abstinenzvereine, die gleichfalls durchweg an puritanischen Einschlag litten, die Ursache für den Jammer der unteren Klassen dar. Der Suff war die Sucht der Underdogs, der Habenichtse - sie soffen nicht, weil sie arm und illusionslos waren; sie waren arm und ohne Aussichten, weil sie chronisch dem Suff zugeneigten. Dass Alkohol auch in höheren Kreisen aus zu großen Bechern genippt wurde, entsprach schlichtweg nicht der Scheuklappenwirklichkeit der Temperenzler.
Beschwerlich, auch schon fast klischeehaft, immer wieder mal auf Max Webers Schrift hinzuweisen, in der er die protestantische, puritanische Ethik zur Mutter des kapitalistischen Geistes ernennt. Dennoch offenbart sie, dass sozialreformatorische, puritanisch angelehnte Pädagogik, vermengt mit protestantisch hergebrachten Kapitalismus, zu einem programmatischen Ferment verschmelzen. Beides zusammen will disziplinieren, will den Menschen sittsamer, nutzvoller, effizienter gestalten. Darauf zielen Maßnahmen ab, die Alkohol und Zigaretten, beides gesellschaftlich akzeptierte Suchtmittel, verbieten wollen - bei der Unterschicht verbieten wollen, bei denen also, die aufgrund Erziehungsmängel in die Bredouille gerieten: nach elitärer Lesart jedenfalls.
Das entlarvt eine weltanschauliche Nähe zum Vorabend der Eugenik, als man sich noch brav und bieder mit Rassenhygiene beschäftigte, bevor man zu blutigeren Mittelchen griff. Der Alkoholismus war dort ebensowenig ein Phänomen aller gesellschaftlichen Schichten: er galt als Laster der Asozialen - und war damit Grund und Erkennungsmerkmal gleichermaßen. Temperenzler waren auch unter denen zu finden, die der Rassenhygiene wissenschaftlichen Charakter verliehen - und letztlich war auch der höchste Mann im Lande Abstinenzler. Ist es da Zufall, dass in Tagen, in denen einer ganz offen sozialeugenischen Hokuspokus betreibt, auch die dazu kompatible Abstinenzdogmatik zum Tragen kommt? Wenn diese auch nur symbolisch ist, quasi gleichnishaft einige Groschen einbehalten will, die keinem richtig wehtun, weil knapp 20 Euro weniger die Armut auch nicht ärmer machen. Es handelt sich um eine Dogmatik, die die Alimentierung gesellschaftlich akzeptierter Süchte verbieten will, um die Habenichtse zu drillen, zu dressieren, zu einem "richtigen Dasein" ohne Suff, ohne Rauch zu treiben, sie mit sittsamen Geist zu beatmen. Eine bigotte, erzieherische, belehrende Dogmatik, die praktischerweise immer verstärkter ins Sozialwesen verfrachtet wird. 


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