›Diese‹ Leute vom Land

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Villamontes. Auf der Hauptstraße, die von einem großzügigen, baumbewachsenen Grünstreifen geteilt wird, befindet sich an einem Kreisel, die Skulptur eines Fisches. Er soll so aussehen, als ob er in die Höhe hechtet. Dieser Brunnen, er wäre blanker Hohn – wäre er nicht versiegt. Das Licht der Sonne hat den Himmel durchdrungen. Der ockerfarbene, ständig in der Luft liegende, Staub verleiht dem Ort etwas Bedrückendes, Melancholisches – umso mehr, wenn sich die Sonne senkt. Wenngleich erst mit der Dämmerung Leben in diese Stadt einkehrt. Auf dem Markt werden die ersten Grills aufgestellt, die Musik läuft schon seit längerem. Hängengeblieben in Villamontes, nach 19 Stunden Fahrt, die in Sucre – Boliviens offizieller Hauptstadt – begonnen hat. Heute – um 2 Uhr morgens – geht es weiter nach Paraguay. Meine Finger bewegen sich über die Tastatur, wie Füße auf weichgewordenem Asphalt. Ich sitze hier, nur in Unterhose, und dennoch rinnt mir der Schweiß nur so aus den Poren. Meine Unterhose ist grün, auf ihrer Vorderseite, etwas links versetzt, prangt ein lächelnder Delfin – Design ›hecho en Bolivia‹. Die Luft ist wie ein Schraubstock. Für die zwölf Stunden, die ich in dieser Einöde warten muss, habe ich mir ein Zimmer gemietet. Im Fenster legen vier vermummte schwitzende Arbeiter einen Parkplatz. Die Wolken warten. Ich habe noch ein einen letzten Rest Rotwein im Gepäck. Nein, der Wind will nicht kommen.

Nun verlasse ich also Bolivien, das ärmste – und bislang schönste – Land auf meiner Reise. Aber für ›die Vollkommenheit‹ hat zu sehr das Menschliche gefehlt. Wie gegensätzlich sind doch selbst für mich – der nur für kurze Zeit diese Länder durchschreitet – die Unterschiede zwischen den Menschen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich von den Menschen hier halten soll. Nikola vermutete, dass die Armut es ist, die die Ellbogen der Menschen so spitzt …

Ich saß auf der Brüstung des offenen Lastwagens, in ungefähr drei Metern Höhe, und bat die Personen unter mir Platz zu schaffen. Zum dritten Mal bereits. Die alte Frau, wusste sich angesprochen, tat aber so, als höre sie mich nicht. Die Person zur linken, unternahm lediglich einige lächerliche Bewegungen, die suggestieren sollten, dass sie sich bemüht, aber nicht kann – sie wollte nicht, um ihren ›guten‹ Platz willen. Schließlich griff eine Hand aus der Menge nach meinen Rucksack. Ich dankte, immer noch auf der Brüstung sitzend. Da vom Himmel auch keine Leiter hinabstieg, sah ich mich gezwungen, die Person zur linken, schroff zur Seite zu schieben und hinunter zu springen. Ein Hund jaulte auf. Die Frau mit dem geflochtenen Haar und den Bananen war ebenso nicht erfreut. Es hatte wahrlich nichts mit meiner Person zu tun, weitere zusteigende Fahrgäste wurde ebenso freundlich aufgenommen. Die nächsten zwei Stunden schaukelten wir dann Richtung Punillo, in die Cordillera de los Frailes. Dort wollte ich wandern. Verblüffung regte sich in mir, angesichts der bunten Schar an Leuten: Unter Ihnen befand sich ein Komiker – ich war seine Bühne. Freundlich und hilfsbereit war er trotzdem. Seine Gesten wirkten immer bestimmt und agil. Viele andere auf der Ladefläche schienen gleichmütig, uninteressiert, müde. Die Kinder, die haben immer und überall ihren Spaß: Sie hauten sich mit leeren Plastikflaschen gegenseitig auf die Rübe, pantschten im mitgebrachten Essen oder schauten mich mit Verwunderung und schüchterner Neugier an. Viele sahen vermutlich das erste mal in ihrem Leben einen Weißen. Vielleicht fragten sie sich aber auch ›warum dem Mann denn da zwei Augen  und Nase im Haar wachsen‹ … Den Kleinsten wurde, wenn nichts gegen ihre Quengelei half, schamlos die Brust gereicht. Einige Männer standen stoisch da, mit gelegentlich sich bewegender gefülter Backe und abwesendem Blick. In der Menge befanden sich auch Musiker. Sie kamen – buntes Konfetti noch im verwirrten Haar – gerade aus Sucre, wo fast eine Woche der Karneval tobte. Beim Aussteigen torkelten sie. Andere trugen prallgefüllte Tüten mit sich, in denen sich frisches Brot, Hochprozentiger, Limonade und Plastikspielzeug befanden. Zwischen den Passagieren stapelten sich Paletten mit Trauben, Bananen und Gurken, Gasflaschen, Kartoffeln und … Schafe. Ich erreichte meine ersten Halt, Punillo. Wieder kämpfte ich mich durch die Menge und kletterte über die Brüstung. Obwohl der Lastwagen an den Seiten Türen hatte, öffnete man sie nicht. Die Ladefläche war dermaßen gefüllt, dass jede Bewegung aussichtslos schien.

Die Wanderung selbst führte mich zunächst zu einer prähistorischen Kapelle, der so genannten Capilla de Chataquilla. Ihrer Anmut versetzte mich dermaßen in Begeisterung, dass ich zu meiner Tüte Erdnüsse griff und wieder umdrehte. Bald darauf führte eine präkolumbische Inka-Straße ins Tal hinab, dort schloss ich mich einem wilden reißenden Strom an. Gemeinsam passierten wir ausgestorbene Siedlungen: Büsche wuchsen auf der teilweise völlig weggebrochen Straße, Bäume lugten aus den Fenstern, Mauerwerk war durch Wurzeln geborsten. Und, weit und breit keine Hundegebell. Nur die Felder schien man nicht aufgegeben zu haben. Hinter mir zog Gewitter auf. Ich beeilte mich. Die entscheidende Gabelung verpasste ich – natürlich. Das erfuhr ich jedoch zufällig in Socapampa. Ein Mann, um die 40, begrüßte mich mit einem zahnlosen Lächeln, seine Hand hätschelte den Kopf seines Sohnes. Ich fragte nach etwas Limonade. Wir scherzten ein wenig, dann erklärte er mir den Weg. Er roch widerwärtig und seine Augen wirkten wie ein blinder Spiegel. Der völlig verrotzte verdreckte Junge fragte nach Süßem, seinem Wunsch konnte ich leider nicht entgegenkommen. Ich drehte also um, kletterte über ein verwildertes Kirchengrundstück und ging eine schwankende Brücke an das gegenüberliegende Ufer. Der Pfad gabelte sich. Glücklicherweise traf ich auf zwei Damen. Sie begleiten mich ein wenig, wir mussten dazu einen weiteren Flussarm überqueren und uns durchs Gebüsch schlagen. Als ›Gegenleistung‹ sollte ich den mit Getreide gefüllten Sack, den ihre Tochter schulterte, eine Weile tragen. Mir fiel es nicht schwer. Aber die junge Dame war keine 14 Jahre alt.

Auf den letzten Kilometern begegnete ich einem jungen Geschwisterpaar. Der Junge sammelte Stroh für die Kühe, seine Schwester fragte nach Süßen. Ich reichte ihnen – nachdem mir der Kleine den Weg erklärte – meinen Rest Limonade. Seine Schwester war ganz aus dem Häuschen. Die Berge begannen zu glühen. Die Schatten zerflossen langsam und diffus. Die Sonne verschwand gerade, als ich einen Zeltplatz gefunden hatte. Völlig erschöpft machte ich mir Brote mit Avocado-Bananen-Creme, Äpfel und Erdnüsse. Ich war weiter als erwartet vorangekommen, was einer Vielzahl glücklicher Zufälle zu verdanken war. Die Melodie einer Rohrflöte wog mich in tiefen Schlaf.

Ich verschlief. Mein Frühstück nahm ich beim Zusammenraffen ein. Ein Guide, den ich am Vortag traf, sagte, dass der einzige Bus zurück nach Sucre von einem drei Stunden entfernten Dorf zurückfahren würde. Ich machte mich also schnellstmöglich zum Krater de Maragua, welcher der Grund meiner Wanderung war. Enttäuschung: Die ersten goldenen Strahlen legten sich gerade auf die Dachziegel, Baumkronen und Wiesen, als ich nach dem Weg zum Krater fragte. Der Jugendliche antwortet mir, ein wenig verwundert, dass ich mich bereits im Tal des Kraters befände. Und doch, im Nachhinein muss ich zugeben, alltäglich ist das nicht gewesen – aber wie schon die Städte betreffend, ich habe zu Genüge gesehen. Der Krater, das war eine kreisförmige Kette von Bergkuppen, deren Gesteinsstruktur sich in Halbkreisen auf den Hängen abzeichnete. Dramatischer wirkten die schroffen bläulichen Berge in der Ferne. In einem nächsten Dorf hielt mich ein Mädchen an. Sie verkaufte Armbänder. Ich fand das rührend und kaufte gleich zwei. Kaum überreichte sie mir sie, liefen ihren jüngeren Geschwister – obwohl früh morgens, völlig verschmutzt – heraus und boten mir gezuckertes Brot an. Kurz darauf zeigte sich die Mutter. Ich vertröstete die Kleinen und ging weiter. Und blieb wieder stehen, einmal mehr vor einer verwitterten Kirche. Der Glockenturm bestand aus Lehm, den der Regen nach und nach abtrug. Es stimmte mich nachdenklich: Wenn ein Land wie Bolivien, in dem 95 % der Bevölkerung Christen sind, kein Geld oder keine Kraft hat, seine Kirchen aufrecht zu erhalten, dann heißt das was … Ein verlumpter Mann, denn ich dort antraf, fragte mich nach einem Gürtel. Zunächst begriff ich nicht, dann zeigte er mir auf seine viel zu weite Hose. Ich konnte ihm nichts geben. Sein Mund sah, wie der so vieler Menschen hier auf dem Land, furchtbar aus. Ab dem Grat wurde es ungemütlich. Das mich verfolgende Grau holte mich ein und erschöpfte sich über mir. Die letzten beiden Stunden wurde ich blind für die Landschaft. Der Regen nagte an meinen Nerven, der Zeitdruck ließ keine Zeit zur Muse.

Und doch, in Quila Quila war der Bus bereits weg. Aber, es sollte noch einer fahren, am früheren Nachmittag. Mit anderen Wartenden setzte ich mich an den Straßenrand und wartete und schlief und wachte auf und wartete. Zwei Stunden lang, bis ein Laster hielt. Es war der, der mich schon nach Punillo fuhr. Die Fahrt zog sich wieder einmal hin. Die Sonne brannte. Die Geschwindigkeit war aufgrund der Straßenverhältnisse nervtötend. Plötzlich Geschrei! Alte Frauen sprangen auf und deuten mit dem Finger auf den Hang. Steine kollerten herab. Der Bus bremste ruckartig. Panik sprang über die Gesichter. Vielleicht unterschätzte ich die Gefahr – ich spürte keine Regung. Zwei Jungs sprangen vom Laster und liefen vor, die Steine in hektischen Bewegungen wegtragend. Dann brauste der Bus durch. Aufatmen. Später steig ein Greis ein. Er bewegte mich. Trotz seines stattlichen Alters hievte er einen Sack auf die Ladefläche. Seine Augen waren bereist matt und was an Zähnen übrig geblieben war, war schwarz und verfault. Er war erschöpft, verschwitzt und plumpste sofort auf die Ladefläche. An ihm bemerkte ich, was ich später an vielen bemerkte: Auf den Lippen lag ein dunkler, teils ausgefranster, Strich. In den Mundwinkeln verdichtete er sich zu einem Fleck – Koka-Blätter. War er abhängig geworden, oder hatte er seit Jahren einen so großen Hunger? Später stieg ein Bauer mit zwei Böcken dazu. Dieses sorgte bei einem kleinen Mädchen für Begeisterung: Sie sprach mit ihnen, tastete sie ab und – zum Unglück ihrer Mutter – sie zog an ihren Ohren. Der Bock sprang auf und wenigen Sekunden später ihre erschrockene Mutter – der Bock hatte eingepisst. Später schissen die Böcke auch noch auf die Ladefläche. Ekelhaft mag man denken, die Leute müssen weg gesprungen sein! Nein, nichts dergleichen. Die Mutter war so erbost, dass sie die erbsengroßen Köttel aufhob und jeden einzelnen in das Fell des Bockes rieb.

An einem erdbraunen dröhnenden Fluss hielt der Bus. Wir mussten alle aussteigen, eine Brücke passieren und den nächsten Transporter nehmen. Erst jetzt bemerkte ich Leute, die nicht vom Land kamen. Sie trugen buntere, saubere Kleidung, sie rochen anders, nach Blumen, nein, nach Parfum, Duschgel, ihr Haar glänzte, ihre Haut wirkte frischer, Sonnenbrillen machten sie ungewiss. Zwei Ereignisse haben mich noch nachdenklicher gemacht: Da war zum einen eine Frau, die mich und einige anderen Personen auf dem Weg zur Brücke zu überholen versuchte. Vielleicht befürchtete sie den Bus zu verpassen. Plötzlich stolperte sie über einen Stein und all ihre Kaktusfeigen und Äpfel kullerten aus dem Einer. Während sie auflas, gingen die Leute einfach an ihr vorbei. Ich war der einzige der sich zu ihr kniete und mithalf. Sie bedankte sich mit einem kühlen ›gracias‹. Das zweite Ereignis ist das Einsteigen in den Anschluss-Transporter. Wir warteten bereits eine lange Zeit, konnten aber unter einem Baum Schatten finden, als der LKW vorfuhr, umdrehte und die Luken öffnete. Plötzlich, als wären die Leute von Hund gebissen worden, liefen sie zum Bus und quetschten sich mehr schlecht als Recht durch die Öffnungen. Dabei waren noch einige Passagiere nicht ausgestiegen. Und wieder war da ein alter Mann, der sichtlich Mühe hatte, sein Gut hochzuheben. Keiner half. Im Gegenteil, man versuchte sich gegenüber ihm einen Vorteil zu verschaffen. Der Mann kämpfte und ächzte. Dann griff ich mir den Sack und warf ihn hoch. Dann nahm ich den zweiten und dann den dritten – aber ›danke‹ sagte der Mann nicht. Und oben, auf der Ladefläche, fragte ich mich, warum die Menschen so sind.

Schweiß tropft auf meine Tastatur. Einen Presslufthammer haben sie nicht. Stattdessen bedienen sie sich einem Betonquader, in den eine Stange einbetoniert ist und deren Biegung es erlaubt, den Klotz zu stemmen. Stöhnend hievt immer einer den Betonquader hoch und lässt ihn fallen. Das macht er drei-, viermal. Dann stellt er sich – den Rücken streckend – in den Schatten einer Markise.

Mein letzter Nachmittag in Bolivien. Ich mache den Café al Coñac auf.


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