Die Wirklichkeit langweilt

Dieser aufklärerische Impuls ehrt Sie ja sehr, lieber Richter Voßkuhle. "Die Macht der Bilder echter Verfahren vor deutschen Gerichten" würden sie gerne walten lassen - statt der Daily Soaps im Talar, statt Salesch und Hold, tiefe Einblicke in die juristische Wirklichkeit: das wäre tatsächlich ein aufklärerischer Beitrag, ein seriöses Wagnis, würde den Rechtsstaat populär aufbereiten.
In winzigen Ansätzen gab es das ja schon; als Barbara Salesch einst auf Sendung ging, 1999 war das, da handelte es sich noch um wirkliche Fälle zivilrechtlicher Machart. Es gab keine Laiendarsteller wie heute, es gab wirkliche Kläger, wirkliche Gegenkläger, ein bindendes Urteil. Kein Drehbuchautor hätte es je vermocht, sich eine Gestalt wie jene sächselnde Maschendrahtzaun-Liebhaberin zu ersinnen - solche Geschichten und Figuren schreibt nur die Realität; Problem ist nur, dass die Wirklichkeit solche Storys, solche Protagonisten viel zu selten liefert. Das haben die Köpfe hinter Salesch auch schnell kapiert, sie mussten auch reagieren, weil die Quote nicht stimmte; nach nur einem Jahr wechselte man die wirklichen Fälle und Betroffenen aus, ersetzte sie durch Skripte und Laienschauspieler. Die kecke Richterin urteilt heute im Rahmen einer Scripted Reality und das Konzept verkauft sich besser als vorher, als man noch auf den Pfaden der Authenzität trampelte.

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Photo: tronbienbui

Herr Voßkuhle, wenn nun ein Verfassungsrichter wie Sie einer sind, sich beispielsweise zum Thema Hartz IV äußert, dabei Dinge sagt wie "...mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind...", dann gereicht das dem rechtsstaatlichen Anspruch zur Ehre, aber ein Massenpublikum erreichen sie damit niemals. Die Salesch war damals schon flapsiger als es Verfassungsrichter je sein könnten, nebenher waren ihre Fälle auch alltäglicher, profaner: geklappt hat es aber auch da nicht besonders mit der Abbildung der Realität. Mit solchen Floskeln wie der eben zitierten, da befriedigen Sie bestenfalls eine kleine Gruppe von Verfassungsfetischisten, aber den nachmittäglichen Zuseher, der sich berieseln lassen will, der bleibt davon unberührt.
Die Wirklichkeit scheint für die Menschen schrecklich öde zu sein, der trockene Duktus der Juristen läßt sie schier türmen. Wer heute die Wirklichkeit in die Medien bringen will, der braucht keinen investigativen Journalismus, keinen Dokumentarfilmer: der braucht einen Scripted Reality-Experten; jemanden also, der Realität und Drehbuch so verquickt, dass dabei Quote herauskommt. Bei Hold und Salesch laufen daher auch ständig knapp bekleidete Püppchen durch den Gerichtssaal oder pöbeln Zeugen und Anwälte wie irr; dass oftmals gegen Ende der Veranstaltung ein im Publikum anwesender Charakter aufsteht, um den verworrenen Fall zu entschlüsseln, den Mörder, Vergewaltiger oder Dieb beim Namen zu nennen, ist auch diesem Verfahren zu verdanken. Die Leute wollen doch keinen Prozesse, keine Urteilsverkündungen verfolgen, die vor Paragraphen nur so strotzen; sie wollen dergleichen mit tiefem Dekolletee serviert bekommen, wollen hüpfende Titten, geifernde Zeugen oder widerliche Angeklagte beschauen dürfen.
Sie scheinen ein Optimist zu sein, Herr Voßkuhle; Sie haben sich, sagen wir es ruhig so provokativ, einen ganzen Haufen Naivität bewahrt. Realität ist trüb, niemand will sie; die Leute wollen eine Realität geliefert bekommen, die es nicht gibt, die es aber nach ihrem Verständnis geben sollte. Das ist eine Konstante der Berichterstattung; die Menschen wollen die Wirklichkeit zunächst in ein Drehbuch verpackt sehen, damit sie so verfilmt werden kann, wie man sie gerne hätte. Urteilte das Bundesverfassungsgericht wieder einmal zur Grundsicherung für Erwerbslose, die unzureichend sei, weswegen sie neu berechnet werden müsste, so wollte das Publikum keine Paragraphenflut ertragen, sondern arbeitslose und verwahrloste Kreaturen in den Sitzreihen beobachten, die sich raffgierig die Hände reiben; es wollte Richterinnen in engen Talaren und aparte Richteradonisse präsentiert bekommen; und mittendrin sollte jemand aus dem im Gerichtssaal anwesenden Publikum aufstehen und laut schreien, dass eigentlich alles ganz anders sei und dass man nun mit der Sprache rausrücken wolle, um den Angeklagten zu entlasten. Dass es gar keinen Angeklagten gibt, ist dabei unerheblich - der gemeine Zuseher wird das gar nicht bemerken.
Reale Prozesse werden nur massentauglich und quotenträchtig, wenn sie aufgepeppt werden, wenn sie das Reallastige abwerfen, um der Sensationslüsternheit Raum zu bieten. Herr Voßkuhle, wenn Sie ein großes Publikum bedienen wollten, dann würden Sie ganz schnell zu einer Barbara Salesch des Bundesverfassungsgerichts. Die von Anwälten und engagierten Bürgern eingereichten Anträge und Beschwerden, sie müssten durch Drehbuchskripte ersetzt werden - wer will denn was von der Besteuerung von Wohnmobilen oder die Genehmigung eines Windparks hören? Grundsätzlicher müsste es werden, spannender und weitreichender. Man bräuchte juristisch angelesene Drehbuchautoren, die einen Verfassungsbeschwerde erstellen, weil es zum Beispiel die Todesstrafe nicht gibt oder weil Glaubensfreiheit herrscht. Das polarisiert! Damit steigt die Quote, rollt der Rubel! Wen kümmern denn die Wirklichkeiten des bundesrepublikanischen Alltags? Nein, eine Fachanwältin in Minirock muß her, die mit aufgeknöpften Blüschen für die Todesstrafe eintritt und dem feschen Richter zublinzelt. Das ist die "Macht der Bilder", die Sie ansprachen, Herr Voßkuhle - nur so geht es!
Sie sprechen verkappt von Aufklärung, aber wir sind in Zeiten von RTL und 9 Live lange darüber hinweg - der homo bertelsmannus möchte leicht verköstigt werden, er möchte anspruchslos unterhalten sein. Das heißt daher: entweder bleibt die Justiz ungefilmt und damit halbwegs seriös - oder sie drängt ins Fernsehen und muß sich zwangsläufig den Mechanismen anpassen. Dann wären Sie kein Verfassungsrichter mehr, Herr Voßkuhle, dann würden Sie nurmehr einen mimen...


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