Die weiße Lilie

Die weiße Lilie

Scheinbar zufällig trafen sie sich an der Wegkreuzung. Sie kam von drüben; er kam aus dem Nebel. Beide waren sie nicht sicher, welche Richtung sie einschlagen sollten. So setzten sie sich nebeneinander auf einen Stein am Wegrand und sprachen über ihre Zweifel.

Fragend wandte sich der alte Wanderer an die Frau an seiner Seite: „Gibt es nicht eine Regel für solche Fälle, eine die immer und überall gültig ist?“

„Es gibt wohl Regeln, die immer gelten“, antwortete sie. „Grundgesetze die nicht nur hier an dieser Kreuzung, nicht nur auf dieser Welt, sondern überall die gleichen sind. Das Problem ist nur“, fuhr sie fort, „dass wir sie nicht kennen.“

Nachdenklich schaute er auf die Blume, die einsam auf der anderen Seite der Wegkreuzung ihre Blätter der dunkelroten Sonne entgegenstreckte. Wahrscheinlich war es eine Lilie, dachte er. War sie ein Zeichen, eine Wegmarke? Eine schwache Erinnerung an einen fernen Traum verschwand im Dunst des Vergessens, ehe er sie fassen konnte. Er löste sich von seinen Gedanken und antwortete: „Wir würden die allgemein gültigen Gesetze wohl kennen, wenn wir nicht diese Barriere in unseren Köpfen hätten. Diesen scheinbar undurchdringlichen Nebel, der unser Denken begrenzt. Wir ahnen bloß, was jenseits liegt, doch erkennen können wir es nicht.“

„Könnten wir uns nicht einfach hinüber träumen, auf die andere Seite der Grenze?“, fragte sie ihn und ihre Stimme klang dabei irgendwie vertraut. Verdutzt sah er sie an und nahm zum ersten Mal bewusst ihr Gesicht war, das im rötlichen Licht der Sonne glänzte. Ihr Alter war undefinierbar und ihre Schönheit von schlichter Eleganz, so wie die Blume gegenüber.

„Es würde nichts nützen“, meinte er. „Die Barriere existiert auch in unseren Träumen. Obschon es dort leichter ist, auf die andere Seite zu gelangen: die Barriere verändert den Charakter der Informationen, die sie durchqueren.“

Sie schaute ihn mit einem eigenartigen Glitzern in den Augen an und meinte: „Nicht, wenn wir uns selber verändern. Dann sollten wir in der Lage sein, ganz bewusst zwischen den Welten zu wandern.“

Er dachte eine Weile über ihre Antwort nach und schaute dabei unwillkürlich zu der weißen Lilie hinüber. „Und wie“, fragte er schließlich, „wie stellst du dir das vor?“

„Wir müssen uns mit den Welten verbinden, in sie eintauchen. Und dazu müssen wir sie verstehen.“

Sie deutete auf die andere Seite des Weges, wo die Blume stand und sagte: „Wir sollten uns mit den Wesen und Dingen identifizieren um sie zu verstehen. Schau als Beispiel diese Blume an. Um zu sehen wie sie wirklich ist, um ihre Botschaft zu begreifen, musst du dich in ihre Lage versetzen. Du musst eine Blume sein.“

„Und was sollen wir sein, was sollen wir werden um die Barriere zu überwinden?“

„Traumgestalten“, sagte sie.

Er sah wieder in ihr Gesicht, es war jetzt ganz anders als vorhin. Das Gesicht einer anderen Frau. Sie war wie ein Chamäleon, dachte er erstaunt. Gerade noch hatte er einen leisen Hauch des Erkennens gespürt und jetzt sah er wieder eine Fremde vor sich.

„Und wer bist du?“ Fragend blickte er in ihre Augen und sah darin unzählige Gesichter in der Tiefe glitzern.

„Ich bin die Frau in deinen Träumen“, gab sie zurück.

Als er ging, nahm er die weiße Lilie mit.

Aus dem 2002 erschienen Roman „TRAUMWANDLER“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors ;-)

Ein traumhaftes Wochenende. Euer Traumperlentaucher

Bild: Der Sternengucker



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