Die Wandlung meiner Erziehungsvorstellungen

Die Wandlung meiner ErziehungsvorstellungenIch glaube, ich war früher eine Erziehungs-Hardlinerin. Wenn ein Kind unruhig, rücksichtslos, frech, unhöflich, vorlaut, respektlos, unselbstständig, ängstlich, faul, quengelig usw. war, sah ich die Schuld bei den Eltern. Dann waren diese einfach nicht konsequent genug oder uneins gewesen, hatten zuviel durchgehen lassen oder nicht genug ermutigt, das Kind vernachlässigt oder zu sehr verwöhnt, insgesamt also sich nicht genug Mühe bei der Erziehung gegeben. Traf ich auf sogenannte altkluge, besserwisserische Kinder, dachte ich immer, das würde es bei mir aber nicht geben. Ich war zum Beispiel auch davon überzeugt, dass jedes Kind irgendwelche Interessen hat und wenn nicht, sind sie nicht genügend gefördert worden. Dabei hätte ich selbst an meinem Bruder und mir sehen können, welch verschiedene Menschen bei identischen Genen und gleicher Erziehung entstehen und sich entwickeln. Ich sah bei vielen Eltern große Defizite in ihren Erziehungseinstellungen, ohne eigene Erfahrung zu haben und vor allem auch ohne viel Literatur gelesen zu haben.
Als ich selbst Kinder bekam, merkte ich, dass vieles nicht funktionierte, was ich mir vorher ausgemalt und so einfach vorgestellt hatte. Der Papa müsse doch auch mal füttern können! Was aber, wenn das Kind keinerlei Flaschennahrung akzeptierte? Die Großeltern sollten mal die Betreuung übernehmen! Das Kind lässt sich aber von keinem anderen trösten! Man muss nur lange und oft genug Autofahren, dann gewöhnt es sich daran und schreit nicht mehr! Bis kurz vor seinem 2. Geburtstag hat der Große im Auto geschrien. Wenn das Kind bockt und man weggeht und hinter einer Ecke wartet, dann wird es über kurz oder lang nachkommen! Da hätte ich die ganze Nacht warten können! Wenn man das Kind musikalisch fördert, dann wird es ein Interesse/eine Leidenschaft für Musik entwickeln! Das musikbegeisterte meiner Kinder ist aber lustigerweise das nicht geförderte Kind, die Kleine. Und so weiter. Ich musste also ziemlich schnell feststellen, dass erstens viele herkömmliche Erziehungsansätze (vor allem bei meinem ersten Kind) gar nicht funktionierten und zweitens keine direkte Kausalität zwischen Erziehungsüberzeugungen und -methoden und den Auswirkungen beim Kind vorhanden war/ist. Vor allem bei meinem Großen nicht, der z.B. jegliche Bestechung/ Manipulation von jeher ablehnte und überhaupt nicht darauf reagierte. Sogenannte Drohungen oder Strafen waren bei ihm, abgesehen davon, dass ich solche Erziehungsmethoden ablehne, völlig wirkungslos, es tangierte ihn einfach nicht, er stellte keinen Zusammenhang zu einem "Fehlverhalten" her und ließ sich absolut nicht in eine bestimmte Richtung beeinflussen. Ebensowenig ließ er sich locken, zu Kompromissen überreden oder bestechen. Handeln konnte man mit ihm nicht. Deshalb ließen wir das ganz schnell bleiben.
Ich beschritt also, als ich Mutter wurde und merkte, das Erziehungsding funktioniert nicht so wie erwartet, völlig neue Wege, die zum Teil vorher für mich ein rotes Tuch gewesen wären. Ich mutierte von der imaginär vorgestellten strengen, konsequenten, regeltreuen Mutter zu einer tief empathischen, unkonventionellen und sehr freilassenden Mama, der die Gleichwürdigkeit ihrer Kinder wichtiger wurde als starre Regeln und Vorstellungen. Auch merkte ich, dass das, was ich mir früher unter Erziehung vorgestellt hatte, so gar nicht meinem Wesen entsprach. Darüber bin ich selber immer noch erstaunt. Wie sehr ich jegliche Art von Reglementierung hasse, merkte ich erst, als ich meine Kinder reglementieren sollte und wie mir das widerstrebt(e). Die verbreitete Auffassung, dass Kinder die Grenzen austesten, die wir Erwachsenen ihnen setzen, wir uns also in einem permanenten Machtkampf mit ihnen befinden, ist mir zutiefst zuwider. Herkömmliche Methoden wie die Dressur von Kindern ("wie heißt das Zauberwort"?) oder als Kind selbst immer wieder gehörte Sprüche jagen mir Grausen ein. Das führte dazu, dass mein Mann und ich plötzlich nicht mehr so tolle übereinstimmende Erziehungsideale wie vor der Elternschaft hatten, sondern ich mich nun, vor allem online, in ganz anderen "Szenen" bewegte und durch die Lektüre vieler verschiedener Bücher, Blogs, Foren etc. auch einen ganz anderen Wissenshorizont bekommen habe. Die für mich einschneidendste wiederkehrende Erfahrung ist immer noch mein enormes Mitfühlen mit den Kindern. Ich fühle ihre Erfahrungen manchmal, als wäre ich sie selbst, es rüttelt vieles aus meiner eigenen Kindheit auf und ich spüre genau, worunter ich selbst als Kind gelitten habe. Dann ergreife ich Partei für sie, auch gegen den Papa oder die Großeltern. Ich möchte, dass sie andere, selbstwirksamere Erfahrungen als ich und viele meiner Generation machen, dass sie einbezogen werden und mitwirken können.
Ich bin mir mittlerweile bewusst, dass man als Eltern tatsächlich weniger erziehen als vielmehr begleiten kann. Jedes Kind bringt unterschiedliche Voraussetzungen mit und was bei dem einen funktioniert, stößt bei dem anderen auf Widerstand oder auf gar nichts. Mir selbst sind z. B. Höflichkeitsregeln ziemlich wichtig und ich habe von Anfang an meine Kinder mit einem fröhlichen "Guten Morgen" begrüßt, egal wie es mir ging. Ich war der festen Überzeugung, so etwas färbt ab und das Kind übernimmt das Vorbild. Manche Kinder vielleicht, mein Großer lange Zeit nicht. Ich bin oft verzweifelt und dachte, du lebst ihm Dinge Tag für Tag vor und er übernimmt nichts davon. Liegt das an mir, an ihm oder woran denn? Ich glaube mittlerweile, dass der Charakter eines Kindes schon sehr viel fester und starrer von Geburt an vorhanden ist, als wir alle glauben. Aus einem ängstlichen Kind wird kein Draufgänger werden, auch wenn das Kind nur von Draufgängern umgeben ist und so erzogen wird. Man kann das ängstliche Kind aber darin unterstützen, seine Ängste zu akzeptieren, zu integrieren und letztendlich selbst über den eigenen Schatten zu springen. Und vielleicht schafft man es auch als Eltern, das Positive darin zu erkennen, nämlich dass solche Kinder sich selten Risikos aussetzen und in gefährliche Abenteuer stürzen werden. Das ist ein gemeinsamer Wachstumsprozess, weniger ein einseitiges Erziehen.
Insofern sollte Erziehung weniger der Versuch der Eltern sein, das Kind nach ihren Vorstellungen zu formen und eine starre Strategie durchzuziehen, die je nach Charakter des Kindes auf mehr oder weniger Widerstand stößt, sondern vielmehr das Erkennen der Individualität des Kindes und das angemessene Eingehen darauf beinhalten. Erziehung sollte ein Lernprozess der Eltern sein, um herauszufinden, was mit dem einzelnen Kind funktioniert und was nicht. Warum sollte ich es mir und den Kindern schwerer als nötig machen und ein starres Regelwerk anwenden, wo ich doch ziemlich schnell gemerkt habe, dass gerade bei meinem Großen keine der herkömmlichen Erziehungsmethoden funktioniert hat? Mir ist es auch wesentlich wichtiger, dass sie sich von mir geliebt, verstanden und aufgefangen fühlen und dadurch hoffentlich genug Selbstsicherheit für ihr Leben bekommen, als dass sie irgendwelchen sinnentleerten Normen entsprechen müssen. Ich möchte nicht gegen sie ankämpfen, sondern sie anleiten, ihnen Strategien für ihr Leben vermitteln, ihnen Vorbild sein. Was davon auf fruchtbaren Boden fällt, ist individuell sehr verschieden und kaum von uns Eltern beeinflussbar. Wie gesagt, das musikbegeisterte Kind bei uns ist das weniger geförderte Kind.
Viele Überzeugungen, die mir mittlerweile sehr wichtig sind, habe ich durch die Lektüre von "Erziehungsratgebern", Blogs und Webseiten gewonnen sowie durch den Austausch mit anderen Menschen, die über das Thema reflektieren und es nicht nur "so machen, wie es die Eltern gemacht haben" und das dann als Bauchgefühl proklamieren. Ich habe schon einmal gegen das sogenannte Bauchgefühl angeschrieben und halte es, so wie es oft verstanden wird, definitiv für keinen guten Ratgeber in Erziehungsfragen. Ich plädiere für Information, für Austausch, für Reflexion. Da tritt dann allerdings das Problem auf, dass meistens nicht beide Elternteile gleich belesen und informiert sind und es zu Missverständnissen oder Auseinandersetzungen kommt. Entweder der aus Mangel an Zeit oder Interesse weniger informierte Elternteil verlässt sich dann auf die Kompetenz des anderen und hängt sich an dessen Weg ran oder er/sie proklamiert das eigene "Bauchgefühl" und es entstehen Differenzen, die wegen fehlender Zeit und Gelegenheit oft nicht gelöst werden können. Sicherlich können Kinder mit verschiedenen Elterncharakteren umgehen, aber eher schlecht damit, wenn ein Elternteil einen bindungsorientierten Weg geht (z.B. tröstet statt "ausbocken" lässt) und der/die andere nicht, weil er/sie es selbst als Kind nicht erfahren hat und genauso unreflektiert weitergibt. Das sind schwierige Situationen, wo man selbst oft überrascht ist, wie diametral entgegengesetzt man an Fragestellungen herangeht. Dabei sind gerade in diesen Punkten übereinstimmende Vorstellungen und Herangehensweisen wichtig.
Ich für mein Teil versuche immer wieder, mich zu hinterfragen und auf verschiedensten Ebenen auszutauschen. Ich merke auch, dass bei meinen beiden Kindern ganz verschiedene Ansätze funktionieren und Erziehung mit der Erwartung bestimmter, folgerichtig eintretender Ergebnisse unwirksam ist. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, die man deutlich sehen kann, wenn man mehr als ein Kind hat. Sie ernüchtert, weil sie den relativ geringen Einfluss auf unsere Kinder zeigt, nimmt aber auch eine riesige Last und Verantwortung von den Eltern-Schultern. Wir haben das Glück, dass unsere Kinder im äußeren Leben sehr angepasst und regelkonform agieren. Schreibe ich das unserer Erziehung auf die Fahnen? Nein, denn ihr Charakter ist einfach so. Ich hoffe, dass sie durch unsere Unterstützung das Selbstbewusstsein erlangen, zu einem Menschen, der gerade in seine Hand geniest hat und von ihnen einen Handschlag zur Begrüßung erwartet, zu sagen: "Nein, das möchte ich nicht, das ist unhygienisch." Gleichzeitig möchte ich, dass sie sich halbwegs regelkonform in der Gesellschaft verhalten. Es ist ein Balanceakt, den auch jeder Erwachsene für sich verschieden löst. Und meine Kinder mit ihren verschiedenen Charakteren werden mit absoluter Sicherheit ganz unterschiedliche Wege gehen, trotz einer ähnlichen Erziehung und Begleitung.
Damit das nicht missverstanden wird: ich glaube nicht, dass wir Eltern gar keinen Einfluss auf die Entwicklung unserer Kinder haben. Ich glaube aber, dass der Einfluss geringer ist, als viele wahrhaben wollen und dass es keine direkten Kausalitäten in der Erziehung gibt. Es ist eben nicht so, dass ein bedürfnisorientiert behandeltes Baby automatisch ein zufriedenes Baby wird. Oder ein gefördertes Kleinkind automatisch Interesse und Leidenschaft für die geförderten Themengebiete entwickelt. Und ich fürchte, es wird auch nicht automatisch so sein, dass ein respektvoll erzogenes Kind automatisch ein respektvoller Teenager sein wird. Der Charakter des Kindes spielt eine sehr große Rolle. Deshalb sollte jeder einen individuellen, auf das Kind bezogenen Weg gehen und dabei immer wieder hinterfragen, sich austauschen und infomieren. Mein Weg ist ein bindungsorientierter, empathischer, gleichwürdiger Weg, der sich tatsächlich erst mit der eigenen Elternschaft entwickelt hat und täglich festigt. Das heißt nicht, dass nie Zweifel daran vorhanden sind oder dass ich das perfekt hinkriege. Weiß Gott nicht. Aber es ist das tiefe Bestreben, meine Kinder so zu behandeln, wie ich selbst gern als Kind behandelt worden wäre. Und genau das ist meine Art von Erziehung.
Dieser Text ist ein Beitrag für die Verflixte Linkparty im April des Blogs Verflixter Alltag.

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